Andrea Staiti (Ed.): Commentary on Husserl’s „Ideas I“

Commentary on Husserl's "Ideas I" Book Cover Commentary on Husserl's "Ideas I"
Andrea Staiti (Ed.)
Walter De Gruyter
2015
Hardcover 89,95€
344
Reviewed by: Diego D’Angelo (University of Würzburg)

 

Zweifellos gehört der erste Band von Husserls Ideen zur einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie zu den am häufigsten missverstandenen Werken der Phänomenologie und möglicherweise der gesamten Philosophie des 20en Jahrhunderts. Seine komplexe innere Logik wirkt beim Lesen befremdlich, und das Auftreten von „methodischen Vorerwägungen“ noch in der Mitte des Buches ist ein berechtigter Anlass zu einem gewissen Unbehagen. Wie mehrere Kommentatoren auch erkannt haben, tut sich Husserl auch keinen Gefallen, wenn er einige Begriffe nicht klar definiert bzw. wenn er gegen den Sinn seiner eigenen Phänomenologie zu gehen scheint. Verbindet man diese Umstände mit der großen Wirkungsgeschichte dieses Buches, so leuchtet die Notwendigkeit eines geschulten Kommentars zu diesem Werk ohne weiteres ein. Das Buch, das Andrea Staiti herausgegeben hat, nimmt sich vor, diese Lücke in der Forschungsliteratur zu schließen.

Die Gliederung des Buches leuchtet unmittelbar ein. Zu jedem Kapitel der Ideen bietet das Kommentar einen Aufsatz an, der – zumindest dem Anspruch nach – die zentralen Fragen der zu diskutierenden Passagen erläutert und eine Hilfe zur Lektüre darstellt. Das Werk will sich verstanden haben als ein kooperativer Kommentar (S. 10), der als eine „Einführung“ dienen soll. Das Publikum, wem die Beiträge gerichtet sind, besteht somit hauptsächlich aus Lesern, die sich zum ersten Mal ans Werk wagen: „This commentary’s ambition is to enable first-time readers of Husserl to tackle Ideen directly (that is: to go for the central insights of Husserlian phenomenology without having to first detour through one of the by now innumerable introductions and companions to phenomenology on the market), while still getting the necessary ,roadside guidance in order the avoid the interpretative perils Husserl identifies in his later remarks“ (Ibidem). Wie sich im Folgenden zeigen wird, hält dieser Kommentar dem Anspruch, eine erste Einführung zu sein, in vielen Fällen nicht stand. Nichtsdestoweniger kann er als ein wichtiger neuer Beitrag zur Husserl-Forschung gelten, nicht zuletzt angesichts der Tatsache, dass bis zu seinem Erscheinen die Literatur, die sich extra diesem Werk gewidmet hatte, recht spärlich war. Die Entscheidung, dem Werk anlässlich seines hundertsten Geburtstages (2013) einen eingehenden Kommentar zu widmen, leuchtet unmittelbar ein.

Es lohnt sich, die einzelnen Beiträge kurz zu diskutieren, da die Texte teilweise sehr unterschiedlich voneinander sind. Der Nachteil einer solchen Vorgehensweise, die eine tiefer gehende Analyse nicht erlaubt, wird dadurch kompensiert, dass die jeweilige Stärke und Schwäche der Beiträge hervorgehoben werden und die tatsächliche Tragweite des ganzen Werkes besser zum Vorschein kommt.

So bietet die Einführung des Herausgebers eine knappe, aber prägnante Darstellung der Wirkungsgeschichte und der unterschiedlichen Reaktionen, die die Ideen I nach ihrem Erscheinen hervorgerufen haben, und zwar sowohl in Deutschland und unter Husserls direkten Schülern, in Frankreich und den USA. Staiti legt die Ideen I als eine Kritik der Vernunft aus und belegt diese Auffassung im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte des Werkes. Die These, die für die Forschung nicht neu ist, lässt sich kaum bestreiten und rückt das Gesamtprojekt der Ideen in einen Rahmen ein, der, obwohl stark kantischer Prägung, die Entwicklung der verschiedenen Kapitel gut nachvollziehen lässt und einige Missverständnisse (vor allem in der Interpretation von Husserls „Idealismus“) vermeiden kann.

Gerade aber solche Missverständnisse haben die Rezeptionsgeschichte des Werkes geprägt: John J. Drummond greift in seinem Beitrag „Who’d ‚a thunk it? Celebrating the centennial of Husserl’s Ideas I“ die ambivalente Rezeptionsgeschichte wieder auf, vertieft aber vor allem die immerwährende Relevanz dieses Werkes in der Phänomenologie sowie ihre Tragfähigkeit für die analytische Philosophie. Er nimmt sich hauptsächlich vor, zu zeigen, wie „phenomenology intersects and contributes to current debates in non-phenomenological circles“ (S. 16). Zu diesem Zweck analysiert Drummond mehrere Ansätze zum Begriff von Intentionalität und von intentionalem Gegenstand, vor allem in Hinblick auf jene intentionale Beziehung, wo eins der beiden Korrelata ein nichtexistierender Gegenstand ist: Laut Drummond befindet sich hier eine Stärke von Husserls theoretischem Rahmen, der auch in der Phänomenologie der Emotionen und Gefühle, sowie in der Reflexivität des Bewusstseins und im Zeitbewusstsein mit nichttranszendenten, nichtweltlichen Gegenständen zum Trage kommt: Es zeigt sich in diesem Bereich die interdisziplinäre Stärke von Husserls Phänomenologie zum Trage. Dennoch lässt sich kaum die Frage vermeiden, warum hier, gerade im Hinblick auf den interdisziplinären Kontext , nicht der Stellenwert von Husserls Wahrnehmungsanalysen hervorgehoben wird. Nicht von Ungefähr wurden die Wahrnehmungsanalysen schon zu Husserls Lebzeiten als das zentrale Stück seiner Phänomenologie verstanden. Dass die intentionale Beziehung auf nichtexistierende Gegenstände interdisziplinär fruchtbar ist, leuchtet ein; der Vorzug gegenüber anderen phänomenologischen Themen müsste aber eingehender bewiesen werden.

Claudio Majolino („Individuum and region of being: On the unifying principle of Husserl’s ,headless ontology“) kommt dagegen die schwierige Aufgabe zu, das extrem dichte erste Kapitel („Tatsache und Wesen“) zu erschließen. Er überspitzt dabei die Rolle der formalen Ontologie und des Individuums-Begriffs und schafft es somit, den gesamten Rahmen von Husserls Überlegungen kompakt darzustellen, liefert aber dafür keine Erklärungen der im Text vorkommenden Begriffe. Es handelt sich somit um einen starken Beitrag zur Forschung, der aber für Husserl-Anfänger wegen der fehlenden Erklärungen nur schwer zugänglich ist.

Robert Hanna („Transcendental normativity and the avatars of psychologism“) knüpft in seiner Lektüre von den „Naturalistischen Missdeutungen“ an Steven Crowell an und legt Husserls Kritik des Naturalismus, Empirismus und Skeptizismus als eine These aus, die er „phenomenological-transcendental normativity“ (S. 54) nennt. Mit dieser These gehe nach Hanna „a strong anti-naturalism“ einher, was eher schwer zu beweisen scheint, vor allem weil der Autor selbst die Gleichung „scientific naturalism = empiricist naturalism = positivism“ (S. 65) aufstellt, Husserl aber seine Philosophie ausdrücklich auch als „echten“ (d. h. recht verstandenen) Positivismus bezeichnet (Hua III/1, S. 44). Die These, dass es um einen „starken“ Antinaturalismus gehe, müsste abgeschwächt werden; trotzdem sind die einzelnen Ausführungen sehr klar und der Text schafft es, einen mittleren Weg zwischen Forschung und Einführung einzuschlagen.

In seinem eigenen Beitrag „The melody unheard. Husserl on the natural attitude and its discontinuation“ gelingt es Staiti, einen Text zu verfassen, der für eine erste Annäherung an Husserls Text gute Dienste leistet. Er konzentriert sich auf den Begriff der „Setzung“, der für Studenten oft eine gewisse Herausforderung darstellt, und erklärt ihn in überzeugender Weise. Er schafft es, die wichtigsten Aspekte des Textes gründlich zu erläutern; zugleich ist auch die Debatte in der Sekundärliteratur immer präsent und dazu wird auch entsprechend Stellung genommen.

Hanne Jacobs fährt in ihrem Text mit der Einstellung des Herausgebers fort. Deswegen ist ihr Beitrag „From psychology to pure phenomenology“ besonders lesenswert: Der Text verortet den psychologischen Weg zur Reduktion innerhalb der Gesamtkonzeption der Ideen und macht ihn stark wie sonst kaum in der Forschung; das ist aber deswegen sinnvoll, weil damit die methodischen Schritte von Husserls Vorgehen deutlicher zum Vorschein treten. Wichtige Begriffe wie „Immanenz“ und „Transzendenz“ werden kompetent eingeleitet, sodass der Text auch für Studenten zu empfehlen ist.

Burt Hopkins („Phenomenologically pure, transcendental, and absolute consciousness“) nimmt sich einen reinen Forschungsbeitrag vor. Er kritisiert alle Kritiker von Husserls „reinem Bewusstsein“, geht aber so undifferenziert vor, dass er mit einem Schlag das husserlsche Bewusstsein gegen „almost a century of Neo-Kantian, Hermeneutic, and French critique“ (S. 123), d. h., sowohl gegen Heidegger und Cassirer, als auch gegen Levinas, Derrida, Marion und andern Ansätzen reetablieren will. Hopkins will das „Pathos“ (S. 130) gegen den Naturalismus stark machen, das Platon und Husserl verbinde: „Plato and Husserl seem to have been pathologically united by their shared response to naturalism“ (Ibidem). Auch wenn der Ansatz grundsätzlich geteilt werden kann, wäre hier eine stärkere Differenzierung der Kritikpunkte vonnöten gewesen, um den Sinn dieses „Pathos“ für das Verständnis des Werkes nachzuvollziehen.

Dagegen schafft es Sebastian Luft in seinem Beitrag („Laying bare the phenomenal field. The reductions as ways to pure consciousness“), durch eine punktuelle Analyse des Textes wirklich Klarheit in Bezug auf einige Grundbegriffe herzustellen. Vor allem im letzten Teil des Beitrags plädiert er für „a more modest conception of phenomenology“ (S. 154), welcher nicht nur Wesens-, sondern auch Tatsachenwissenschaft sein sollte; damit würde die Phänomenologie eine Wissenschaft bleiben, ohne den immer wieder missverstandenen Anspruch, eidetisch, rein und ideell zu sein. Jenseits der realen Haltbarkeit dieses Anspruchs mit seinen Konsequenzen für die Phänomenologie als Ganzes (was eine Diskussion in extenso erfordern würde), zeichnet sich der Beitrag von Luft dadurch aus, dass seine Analyse zu den Wegen der Reduktion mit Beschreibungen einiger Zentralbegriffe (z. B. „reines Ego“) einhergeht; mit diesen Analysen und Beschreibungen und der These einer „bescheidenen Phänomenologie“ spricht der Beitrag sowohl Anfänger in Sachen Phänomenologie als auch Forscher an.

Haben wir am Anfang dieser Rezension von der Verblüffung gesprochen, die von der „methodischen Vorerwägungen“ in der Mitte des Buches ausgeht, so ist James Dodds „Clarity, fiction, and description“ dabei hilfreich, diese Verblüffung wenn nicht abzuschaffen, so wenigstens zu mildern; er vollzieht nämlich den Gedankengang der Ideen I nach und zeigt, dass diese Vorerwägungen tatsächlich dazu da sind, den Bereich des reinen Bewusstseins einzuleiten und die Umschlagstelle direkt mit Descartes in Verbindung zu bringen. Der Beitrag bleibt dabei nah am Text und gibt interessante Einsichten in Schlüsselbegriffe wie „Eidetik“, „Gegebenheit“ und „Klarheit“.

Der Text von Dan Zahavi („Phenomenology of Reflection“) verteidigt die Reflexion als plausible Methode des Philosophierens gegen Friedrich-Wilhelm von Hermanns (und Heideggers) Angriff an den Reflexionsbegriff. Es handelt sich um eine eher fachimmanente Kritik, die den Text zu einem reinen Forschungsbeitrag macht; als Kommentar (vor allem für Anfänger) bleiben aber die Ausführungen in ihrem Erklärungspotential zu beschränkt.

Ganz in die andere Richtung geht Dermot Moran („Noetic moments, noematic correlates, and the stratified whole that is the Erlebnis“). In seiner Analyse des Noemabegriffs meidet er die klassischen Forschungsfragen (wie die langjährige Debatte bezüglich des Verhältnisses von Noema und fregeanischem Sinne) und liefert erfolgreich einen überschauenden, einführenden Einblick in die verschiedenen Themen, die in Husserls Text auftauchen. Damit bekommt der Leser eine fundierte Einführung in Begriffe wie „Noema“ und „Noesis“, aber auch „Erlebnis“ und „Intentionalität“ überhaupt.

Der Text von Nicolas De Warren („Concepts without pedigree. The noema and neutrality modification“) trägt zum einem besseren Verständnis der Ideen I in ausgezeichneter Weise bei. Er schafft es, mit großer Klarheit die enormen Schwierigkeiten von Abschnitt III, Kapitel IV („Zur Problematik der noetisch-noematischen Strukturen“, das längste Kapitel im Buch) darzustellen, und zwar auch für einen Leser, der kein Spezialist ist. Aber er behält auch den größeren Kontext vor Augen, und der Text bleibt deswegen auch für erfahrene LeserInnen ansprechend. Einige Punkte (wie die Behauptung, Husserls Unternehmen sei „pädagogisch“ im Charakter und ziele nicht darauf ab, ein System zu bilden) würden freilich weiterer Erklärungen bedürfen, um ins Detail bewiesen werden zu können; andere Punkte (wie die Tatsache, dass die Phänomenologie als „first-person-perspective“ zu brandmarken, wie es geläufig ist, Husserls Ansatz widerspricht) leuchten ein, obwohl der Leser sich wünschen würde, dass ihnen mehr Platz gewidmet wäre. Sehr zu bedauern bleibt nur, dass der Text offenkundig schlecht redigiert wurde, was den Lesefluss leider beeinträchtigt.

Die klassische Debatte über den Noemabegriff, den von Dermot Moran aus dem Spiel gelassen war, wird von John J. Drummond („The doctrine of the noema and the theory of reason“) wieder aufgenommen. Der Autor konzentriert sich auf den Noemabegriff, grenzt sich gegenüber Gurwitchs Interpretation ab und nimmt zugleich in der Debatte zwischen Føllesdal und McIntyre Stellung: Die Intentionalität sei nicht so sehr vom (ggf. als „Sinn“ verstanden) Noema selbst, sondern vielmehr von den Noesen getragen (S. 261).

Daniel O. Dahlstrom („Reason and experience. The project of a phenomenology of reason“) liefert eine sehr textnahe Analyse der Evidenz und Vernunftsproblematik. Er zeigt, indem er der Devise des Bandes treu bleibt und einen darstellenden Umriss der Hauptthemen gibt, dass die Evidenz die Basis für Vernünftigkeit darstellt. So tritt zutage, dass die in der Einleitung aufgestellte These, die Ideen seien eine „Kritik der Vernunft“, darauf zurückzuführen ist, dass die Phänomenologie den Grund der Vernunft in der Evidenz sieht. Mit anderen Worten, eine Phänomenologie der Vernunft ist demgemäß nichts anderes als eine in der Evidenz fundierte Phänomenologie.

mit dem Versuch, diese Problematik der Vernunft mit der Frage nach der Teleologie zusammenzubringen, schließt Sonja Rinofner-Kreidl („Husserl´s analogical and teleological conception of reason“) auf exzellente Weise den Band ab. Obwohl der Text Vorwissen erfordert, ist die hier gestiftete Beziehung zwischen Husserls Teleologie der Vernunft und Kants praktischer Vernunft, was im Endeffekt zu einer phänomenologische Ethik führen soll, durchaus einleuchtend; insbesondere die These, dass Husserls Teleologie mit Normativität nichts zu tun hat („the teleology of reason as presented in the final sections of Ideas I does not amount to a normative transformation […] that transcends the theory of pure reason”), würde einige gängige Lektüre von Husserls Phänomenologie in Schwierigkeiten bringen.

Jenseits der eigentlichen Beiträge schlägt dieser Kommentar mit einem Schema eine Systematisierung von einigen Begriffen vor. Graphische Darstellungen sind in der Phänomenologie selten, aber nicht deswegen von vornherein unerwünscht, wenn man darüber im Klaren ist (wie der Autor Ben Martin das ist), dass einige Begriffe der husserlschen Philosophie eher flüssig sind, und sich daher nicht abschließend definieren lassen. Einige Annahmen des Schemas kann man in Frage stellen, aber im Wesentlichen scheint die vorgeschlagene Darstellung der noetisch-noematischen Korrelation korrekt zu sein und eine gute Ergänzung für diejenigen, die sich damit konfrontiert sehen, die Ideen I zu unterrichten.

Das gilt ebenso auch für den Band insgesamt. Dem Herausgeber und den Beitragenden ist es gelungen, einen lang erwarteten Kommentar zur Verfügung zu stellen. Selbst wenn die einzelnen Beiträge manchmal zu sehr mit Forschungsfragen beschäftigt sind, und selbst wenn grundlegende Erklärungen von Begriffen und Argumenten fehlen, die für Anfänger wichtig wären, erlauben die zu Wort kommenden Einsichten ein besseres Verständnis des Buches, womit das wichtigste Ziel eines solchen Kommentars schon erreicht ist.

 

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