Hermann Schmitz: Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz

Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Book Cover Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz.
Hermann Schmitz
Karl Alber Verlag
2016
400

[en:]Reviewed by: Corinna Lagemann (Freie Universität Berlin)Rezension von: Corinna Lagemann (Freie Universität Berlin)

Der Kieler Philosoph Hermann Schmitz (geb. 1928 in Leipzig) nimmt sicherlich eine besondere Rolle in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts, insbesondere in der Phänomenologie ein. Angetreten in den späten 50. Jahren mit dem ausdrücklichen Ziel «den Menschen ihr wirkliches Leben begreiflich zu machen», d.h. «nach Abbau geschichtlich geprägter Verkünstelungen die unwillkürliche Lebenserfahrung zusammenhängender Besinnung zugänglich zu machen»[i], blickt er nun auf ein reiches Werk von über 50 Monographien sowie über 150 Aufsätzen zurück. Als Ausgangspunkt für sein Schaffen nennt Schmitz immer wieder die Auswirkungen eines verhängnisvollen Paradigmenwechsels des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses, den er in der griechischen Antike verortet und der in den noch heute teilweise vorherrschenden Leib-Seele-Dualismus geführt habe. Sein umfangreiches, teilweise schwer zugängliches Werk darf man als Projekt verstehen, mit diesen Auswirkungen aufzuräumen; hier sieht Schmitz ein entscheidendes Versäumnis der Phänomenologie, in deren direkter Nachfolge er sich sieht; er ist der Begründer der sogenannten Neuen Phänomenologie.

Das Ziel des vorliegenden Bandes ist es, so Schmitz, «einige Fronten aufzuzeigen, an denen sich mein Kampf gegen die überlieferten Verkrustungen vermeintlicher Selbstverständlichkeit abspielt, um die wichtigsten Stoßrichtungen meiner Ausgrabungen zum wirklichen Leben zu markieren»[ii]. Durch die angemessenen Verbesserungen und Präzisierungen verschiedener Punkte möge das Buch auch für Kenner des Frühwerks ergiebig sein; gleichzeitig beansprucht Schmitz, dass es eingängig sei und sich damit auch für neue Leser seiner Theorie eigne.

Im Verlauf seines Werks haben sich seit den sechziger Jahren vier Hauptlinien seiner Theorie herauskristallisiert, denen jeweils ein Hauptkapitel des Bandes gewidmet ist. Somit erfolgt eine Rekonstruktion und eine kritische Revision des Gesamtwerks entlang seiner Hauptachsen.

Die ersten beiden Kapitel — Subjektivität und Mannigfaltigkeit — stehen sachlich in einem engen Verhältnis; so ist das Kapitel zur Subjektivität auch sehr kurz gehalten. Es handelt sich um eines der frühesten und fundamentalen Konzepte des Schmitzschen Theoriegebäudes und mit Sicherheit auch um eines der komplexesten und am schwersten zugänglichen; so befasst sich der erste Band vom System der Philosophie (Die Gegenwart) (1964) mit diesem Thema. Hier wurden die meisten Korrekturen und Erneuerungen vorgenommen.  Mit seiner intuitiv nicht ganz eingängigen Rede von den verschiedenen Formen der Mannigfaltigkeit beschreibt Hermann Schmitz die unterschiedlichen Stadien des Erlebens gemäß ihres Abstraktionsgrads. Das Mannigfaltige ist das, was der Mensch vor der Individuation einzelner Gegenstände an und um sich selbst erfährt. So unterscheidet Schmitz das chaotische Mannigfaltige vom numerischen, wobei sich ersteres in diffus und konfus unterteilen lässt. Chaotische Mannigfaltigkeit ist ein Zustand ohne Identität und Verschiedenheit, d.h. ein reines gleichförmiges Durcheinander, innerhalb dessen der Mensch sich orientieren muss. Als Beispiel nennt Schmitz das Wasser, das einen Schwimmer umgibt oder den Zustand des Dösens, der die Umgebung verschwimmen lässt. Die Unterteilung in die Subtypen ‘konfus’ und ‘diffus’ wurde nach den Ausführungen im System vorgenommen; damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass es ein breites Spektrum dieser Art(en) von Mannigfaltigkeit gibt. So ist das Wasser, das den Schwimmer umgibt, homogen und entbehrt jeder Form von Identität und Verschiedenheit, was mit dem Begriff der konfusen Mannigfaltigkeit bezeichnet wird. Die spürbaren Körperbewegungen des Schwimmers, oder auch Kaubewegungen[iii] sind immer noch nicht vereinzelbar, jedoch verfügen diese über ein gewisses Maß an Verschiedenheit in der Form, dass sie sich spürbar vom Hintergrund abheben und bewusstgemacht werden können. Bei dem numerischen Mannigfaltigen — im Frühwerk zählbares Mannigfaltiges — handelt es sich um den (leibfernen) Bereich des Zählbaren und der Mathematik.

Allein durch die Unterteilung der chaotischen Mannigfaltigkeit in ihre Subtypen gewinnt die Analyse gegenüber der Ursprungsversion von 1964. Nach der Überwindung des erheblichen Lesewiderstands ermöglicht dieses Konzept eine genaue und treffende Beschreibung des Kontinuums menschlicher Verhaltungen, von den basalen Bewusstseinsschichten bis hin zu dem größtmöglichen Grad an Abstraktion.

Hier schließt die Theorie der Leiblichkeit an, eine weitere zentrale Säule in Schmitz’ Gesamtkonzeption, die im dritten Kapitel des Bandes entfaltet und umfassend gewürdigt wird. Im leiblichen Spüren liegt die Wurzel der Selbstzuschreibung, einem ersten rudimentären Selbstbewusstsein und die «Zündung der Subjektivität». Über die identifizierbare Selbstzuschreibung, die im eigenleiblichen Spüren begründet liegt, können Identität und Verschiedenheit in die Mannigfaltigkeit gebracht werden, dergestalt, dass der Mensch (Schmitz: «Bewussthaber») sich selbst als Zentrum seines Erlebens wahrnimmt und sich in der Welt verorten und sich zu ihr verhalten kann. Dies realisiert sich im affektiven Betroffensein (sic), wenn der Mensch etwas am eigenen Leibe spürt, sich ergriffen oder betroffen fühlt, «wenn der plötzliche Andrang des Neuen Dauer zerreißt, Gegenwart aus ihr abreißt und die zerrissene Dauer ins Vorbeisein entlässt (primitive Gegenwart (…)).»[iv] Hier wird bereits der zeitliche Aspekt von Leiblichkeit angedeutet, der in Schmitz’ Konzeption eine große Rolle spielt, in diesem Band allerdings erst im Zusammenhang mit Welt wieder aufgegriffen wird.

Die Leibkonzeption ist seit den Anfängen im zweiten Band des Systems (1965 und 66) weitgehend unverändert; im vorliegenden Band findet sich eine pointierte, gleichwohl umfassende Beschreibung der zentralen Begriffe (leibliche Dynamik, leibliche Kommunikation, etc.). Allein die Beispiele, die Schmitz wählt, etwa um die leibliche Dynamik zu charakterisieren, sind bisweilen problematisch und nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. So ist etwa im Zusammenhang mit den leiblichen Regungen von der Angstlust die Rede, und von Menschen, die z.B. die Achterbahn als angsterregende Situation aufsuchen, um sexuelle Erregung zu spüren; auch die Erwähnung der mutmaßlich schmerzfreien Geburt ist im Zusammenhang mit der Gewichtsverschiebung im vitalen Antrieb fragwürdig. Hier beruft sich Schmitz auf den Mediziner G.D. Read und bescheinigt den „innerlich vollkommen vorbereiteten Frauen (…) nur sehr geringe oder gar keine Beschwerden“[v]. Allerdings hätten sie „ein gutes Stück schwerer Arbeit zu leisten. Ihr Ächzen und Stöhnen sei das eines Mannes, der mit Erfolg an einem Seil zieht “ (Ebd.). Diese Beschreibung ist ebenso spekulativ wie anmaßend und wird damit dem zu beschreibenden Aspekt nicht gerecht.

Im Zusammenhang mit der Leiblichkeit wird in einem extra Unterkapitel dem Bereich der Gefühle besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In seiner Beschreibung der Gefühle als leiblich fundierte Atmosphären sieht Schmitz «ein jahrtausendealtes Missverständnis der Gefühle»[vi] überwunden, jenes Missverständnis nämlich, das die Gefühle einer privaten, unzugänglichen Innenwelt zuordnet. Indem er Gefühle als Atmosphären mit eigener räumlich-zeitlichen Struktur beschreibt, kann er sie als gleichsam in der Welt vorkommend, den Fühlenden übersteigend und intersubjektiv wirksame Mächte plausibel machen, die keinesfalls auf private Innenwelten beschränkt sein können. Sehr stark ist in diesem Kontext der Vergleich mit Wetter und Klima, ebenso wie seine sehr überzeugenden Beispiele, etwa die Wahnstimmung in der Schizophrenie, das Grauen, aber auch die Zufriedenheit und der ennui. Vor allem die Transformationsprozesse von reinen Stimmungen hin zu in einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt zentrierten Gefühlen lassen sich so gut nachvollziehen.

Im vierten Kapitel öffnet sich der Fokus in Richtung Welt. Hermann Schmitz umreißt seinen Begriff der Welt als entfaltete Gegenwart, wie er dies in seinem Band Was ist die Welt? entwickelt hat; ein Konzept, das sich zwingend aus seiner Theorie ergibt und darin auch schon angelegt war, aber niemals explizit als ‘Welt’ dargelegt wurde. Die entfaltete Gegenwart ist gleichsam der Gegenbegriff zur bereits erwähnten primitiven Gegenwart. Stiftet diese nämlich im affektiven Betroffensein die Subjektivität, findet in der Entfaltung der Gegenwart nach Schmitz eine Abschälung jener Subjektivität statt und der Mensch gewinnt mehr und mehr Distanz zum Geschehen. Das Ergebnis der Entfaltung der Gegenwart ist die Welt: eine den Menschen übersteigende Ganzheit von Gegenständen, Sachverhalten und Möglichkeiten zur Vereinzelung. Dieses Konzept ergibt sich fast zwingend aus seinen bisherigen Überlegungen, expliziert wurde dieser Begriff erst kürzlich im Band Gibt es die Welt? (Alber 2014).

Der Band schließt mit einem vergleichsweise kurzen Kapitel zur Geistesgeschichte des Abendlandes ab; es schlägt den Bogen von dem heidnischen Altertum über das vorchristliche Jahrtausend hin zur Neuzeit. Dieses Kapitel kann als Rückblick auf die philosophiehistorischen Ausführungen verstanden werden, die Hermann Schmitz in verschiedenen Monographien, zuletzt in Der Weg der europäischen Philosophie (2009) ausführte. Gemessen an seinem inhaltlichen Umfang ist es mit 50 Seiten recht kurz und es schließt sachlich nicht an die vorangehenden Kapitel an. In den einleitenden Worten nennt Schmitz ‘Enthusiasmus und Melancholie’ als Triebfedern für dieses Kapitel, was einem bilanzierenden Alterswerk unbedingt zugestanden werden kann.

Was bleibt nun also als Bilanz? Die tatsächliche Überwindung der Mensch- und Weltspaltung? Die Relativierung eines einseitig akzentuierten Individualismus?[vii]

Immerhin kann man festhalten, dass Hermann Schmitz im Verlauf seines Werks ein entscheidender Beitrag zur phänomenologischen Forschung und auch zu zahlreichen anderen Disziplinen gelungen ist, für die seine (Wieder-)Entdeckung des Leibes und seine Auffassung der Gefühle als Atmosphären anschlussfähig und überaus fruchtbar waren, um nur zwei Beispiele herauszugreifen. So profitieren nicht nur Psychologie und Psychiatrie von seiner Theorie, auch für die Geographie, Sozial- und Rechtswissenschaften haben sich seine Analysen als anschlussfähig erwiesen. Mit den Ausgrabungen ist ein pointierter Rückblick auf ein äußerst ertragreiches Werk gelungen, der für Einsteiger und Kenner seines Werkes gleichermaßen empfehlenswert ist.

[i] Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Eine Bilanz. Verlag Karl Alber, Freiburg i.Br. 2016. S.7.

[ii] Ebd., S.8.

[iii] Ebd., vgl. S.104.

[iv] Ebd., S.19.

[v] Ebd., S.170.

[vi] Ebd., S.225.

[vii] Ebd., S.368.

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