Corinna Lagemann
Verlag Karl Alber
2017
Paperback 29,00 €
168
Reviewed by: Corinna Lagemann (Freie Universität Berlin)
Der Kieler Phänomenologe Hermann Schmitz befasst sich seit den 60er Jahren mit einer umfassenden Würdigung und Kritik der traditionellen phänomenologischen Theoriebildung. Das umfangreiche Kernstück und gleichzeitig die Basis seines Schaffens ist das fünfbändige System der Philosophie, welches seine gesamte Konzeption umfasst.
Eine der wichtigsten Säulen seiner Theorie ist die Leiblichkeit. Der Leib, verstanden als das, was der Mensch in der Gegend seines sicht- und tastbaren Körpers spürt, bildet die Grundlage für Subjektivität, für die Konstitution von Eigen- und Fremdwelt, für die Erfahrung von Zeit und Raum und damit auch für die Genese der Person. Der Begriff der Person stellt eine weitere zentrale Größe in Schmitz’ Werk dar. Personalität zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, etwas für sich selbst zu halten und sich bei gleichzeitiger leiblicher Verwurzelung im Hier und Jetzt aus den unmittelbaren Bezügen zu lösen.
Schmitz selbst formuliert dies in diesem Band wie folgt:
“Der Bewussthaber beginnt mit Sichspüren durch affektives Betroffensein in bloßer absoluter Identität, gefangen in Situationen, von deren Nomos er geführt wird, und befreit sich dann mit Hilfe satzförmiger Rede aus dieser Gefangenschaft, indem er sich durch Vereinzelung und Neutralisierung zur Person erhebt, die mit persönlichen Stellungnahmen in die Welt eingreift, dabei aber weder von den Situationen loskommt, aus denen sie Konstellationen schöpfen muss, noch vom affektiven Betroffensein, mit dem sie ihr Personsein und sogar ihre absolute Identität verlöre.” (S.136)
Im vorliegenden Band Zur Epigenese der Person (Karl Alber Verlag 2017) geht es um eben dieses Konzept. Es handelt sich dabei nicht um eine Monographie, sondern um eine Sammlung von einschlägigen Aufsätzen, die in den Jahren 2015 und 2016, oftmals in Form von Vortragsmanuskripten, entstanden sind. Das Buch besteht aus 9 Aufsätzen, die zwar prinzipiell voneinander unabhängig sind und die sich in Teilaspekten wiederholen, allerdings liegt hier keine zufällige Ansammlung von Texten vor, sondern die Aufsätze folgen einer Systematik, die im Begriff der Person selbst begründet liegt.
Damit beschreibt der erste Aufsatz mit dem Titel “Der Aufbau der Person” nicht nur genau diesen (nämlich den Aufbau der Person), sondern liefert gleichzeitig den roten Faden durch den gesamten Band. In diesem Text wird die Konstitution der Person geschildert, angefangen beim affektiven Betroffensein, in welchem der Mensch sich selbst spürt, jedoch noch ohne Möglichkeit der Distanzierung. Darauf aufbauend beschreibt Schmitz den Einsatz der leiblichen Dynamik, d.i. die individuelle Auseinandersetzung mit diesem Betroffensein, die sich in leibliche Kommunikation ausweitet, d.h. auf die Umgebung ausgedehnt wird. Daraus, so Schmitz, ergeben sich Situationen, in denen sich der Mensch befindet; Ganzheitliche Mannigfaltigkeiten, die durch binnendiffuse Bedeutsamkeit zusammengehalten werden, d.h. durch Sachverhalte, Programme und Probleme, die – und hier erfolgt der Übergang zur Personalität – durch die segmentierende satzförmige Rede abstrahierend vereinzelt werden können. Damit ist eine Distanz vom rein leiblichen präpersonalen Geschehen gegeben, welche der Person zu eigen ist.
In den folgenden Aufsätzen werden dementsprechend zunächst das präpersonale leibimmanente Geschehen von Engung und Weitung verhandelt (Kap. 2 “Enge und Weite”) und daran anschließend die Ausweitung der leiblichen Dynamik auf die Umgebung (Kap. 3 “Leib und leibliche Kommunikation”).
Die folgenden Kapitel dienen der Einführung der sogenannten Halbdinge, die quasi als Brücke von der leiblichen Dynamik zu leibexternen Gegenständen dienen; Phänomene, die sich gemäß Schmitz’ Theorie von Volldingen durch ihre unterbrechbare Dauer und ihre unmittelbare Kausalität unterscheiden (Vgl. S.84). Sie verfügen über eine unbezweifelbare, oftmals objektiv spürbare Präsenz, ohne dass man sie als konkrete Gegenstände dingfest machen könnte. Beispiele sind der Wind, Musik, aber auch Schmerz, atmosphärische Gefühle und Probleme, die einen nicht loslassen. Im 4. Kapitel des Bandes wird exemplarisch der Schmerz verhandelt. Schmerz stellt im leiblichen Geschehen einen Konflikt dar, er ist insofern ein Stück weit dem reinen präpersonalen leiblichen Geschehen enthoben, als er eine Konfrontation, eine Auseinandersetzung erzwingt. Dem Schmerz kann man sich nicht indifferent hingeben und darin aufgehen.
Auch im 5. Kapitel “Schall und Farbe” geht es um Halbdinge, die auf unterschiedliche Arten die leibliche Dynamik involvieren und bestimmte Arten der leiblichen Kommunikation bzw. der Einleibung darstellen und somit über den eigenen Leib hinausweisen. Hier unterscheidet Schmitz die aktivischen Eigenschaften des Schalls, der als Widerfahrnis auf den Leib einwirkt von den eher statisch-passiven Qualitäten der Farbe.
Das 6. Kapitel “Sucht als habituelle Fixierung durch einseitige Einleibung” stellt innerhalb des Bandes gewissermaßen eine Scharnierstelle dar. Obgleich Hermann Schmitz gleich eingangs seine Abneigung gegen dieses Thema betont (er hält sich nicht für kompetent), gelingt ihm hier eine sehr spannende Annäherung an dieses Phänomen. Denn er widmet sich hier nicht den Abhängigkeiten nach Substanzen, sondern vielmehr nach bestimmten Verhaltensweisen. So beschäftigt er sich anschließend an Robert Gugutzer eingehend mit der Sportsucht. Schmitz definiert Sucht als “Fixierung des affektiven Betroffenseins an etwas, das den Betroffenen fesselt, an dem er hängt, von dem er nicht loskommt.” Dies sei eine Form der einseitigen Einleibung. Die Scharnierfunktion bezieht dieser Aufsatz daraus, dass er über den Begriff der einseitigen Einleibung die präpersonalen Themen mit den personalen eng verzahnt und damit einen Übergang zu den folgenden Texten schafft.
Die nächsten beiden Texte, Kap. 7 “Bewusstsein von etwas (Über Intentionalität)” und Kap. 8 “Geschichte als Herausforderung durch das Unerwartete” lösen sich das endgültig vom Leib und beschäftigen sich zum Einen mit einer Kritik der traditionellen Phänomenologie, insbesondere mit Husserls Begriff der Intentionalität, desweiteren werden hier Konzepte von Raum und Zeit verhandelt, die deutlich dem personalen Bereich zuzuordnen sind, da sie weit über das leibliche Geschehen hinausreichen.
Der letzte Text nun, “Praxis in der Sicht der Neuen Phänomenologie”, widmet sich dem menschlichen Bereich des willentlichen Handelns, welches sich von der bloßen leiblichen Aktivität des Tieres (und des Menschen auf präpersonaler Ebene) unterscheidet. Hier spielen Themen wie Konstruktion, Werkzeuggebrauch und Begriffe wie Weltbildung und -gestaltung eine Rolle, zu denen der Mensch als personal entwickeltes, mit freiem Willen und Abstraktionsvermögen ausgestattetes Wesen in der Lage ist.
Der Band richtet sich an Leser, die mit Hermann Schmitz’ Neuer Phänomenologie vertraut sind. Die Texte sind in Schmitz’ sehr eigener Terminologie verfasst, beziehen sich in hohem Maße auf seine eigenen früheren Schriften und es gibt keine Einführung in die Begrifflichkeiten, die bei Schmitz recht originell verwendet werden und teilweise von ihm selbst entwickelt wurden.
Für Kenner des Schmitz’schen Theoriegebäudes ist dieses Buch sehr hilfreich, bietet es doch eine neue werkimmanente Aufbereitung eines zentralen Themas.
Lobend zu erwähnen ist neben dem klaren systematischen Aufbau das sehr gute und umfassende Register, das die weitere Recherche innerhalb seines umfangreichen Systems vereinfacht.
Auf den ersten Blick mag man die vielen Wiederholungen insbesondere der Leibthematik als störend empfinden. Allerdings bleibt dies nicht aus, will man den Begriff der Person von allen Seiten umfassend beleuchten; außerdem sei daran erinnert, dass es sich um eine Sammlung von Aufsätzen handelt, die unabhängig voneinander entstanden sind und jeder für sich dieses Thema in berechtigter Art und Weise behandelt.