Sebastian Luft, Maren Wehrle (Hrsg.): Husserl-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung

Corinna Lagemann

Husserl-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung Book Cover Husserl-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung
Sebastian Luft, Maren Wehrle (Hrsg.)
J.B. Metzler
2017
Hardcover 89,95 €
VI, 374

Reviewed by: Corinna Lagemann (Freie Universität Berlin)

Das vorliegende Werk Husserl-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Metzler Verlag, Stuttgart 2017), herausgegeben von Sebastian Luft und Maren Wehrle, stellt einen vielseitigen, umfassenden Überblick über das Leben und Wirken Edmund Husserls dar. Sein besonderes Verdienst liegt darin, dass er deutlich über einen bloßen Überblick hinausgeht und inhaltlich auch in der Tiefe zu überzeugen vermag. Der Band versammelt eine Vielzahl von Aufsätzen, nicht nur zu Husserls Schaffen als publizierender und lehrender Philosoph – die Sektion „Werk“ umfasst immerhin 24 Beiträge und untergliedert sich in Veröffentlichte Texte und Nachlass – auch seinem Leben, seiner Biographie und den historischen Gegebenheiten seiner Zeit wird, immer in Hinblick auf sein philosophisches Projekt, Beachtung geschenkt. Abschließend widmet sich der Band dem Einfluss, den Husserl ausübte, sowohl auf Personen, deren Denken und Wirken er maßgeblich geprägt hat als auch Strömungen und Denkrichtungen innerhalb und außerhalb der Philosophie. So sind hier neben philosophischen Schulen auch Soziologie, Psychologie und interdisziplinäre Diskurse genannt.

Als „besonderes Anliegen“ und gleichzeitig als Neuartigkeit des Bandes bezeichnen die HerausgeberInnen dem Nachlass: „den in ihm behandelten Themen, seiner Entstehung und der sich durch diesen ausdrückenden Arbeitsweise Husserls, gebührend Raum zu geben. Die Betonung des Nachlasses in der Auswahl der in diesem Handbuch behandelten Themen ist in der Forschung ein Novum“ (S.3).

Die AutorInnen sind der internationalen Husserl-Forschung zuzuordnen; neben Beiträgen aus dem deutschsprachigen Raum von einschlägigen Husserl-Experten wie Sonja Rinofner-Kreidl, Christian Bermes und Thomas Bedorf, ist z.B. Nicolas de Warren zu nennen, der insbesondere den ersten Teil des Buches mit luziden Betrachtungen zentraler Werke Husserls bereichert.

Der biographische Abschnitt „Leben und Kontext“ bündelt familiäre Situation, zentrale Personen, psycho-soziale Umstände (Husserl spricht in den 1930er Jahren über seine Depression) und bettet sein Schaffen und Lehren sowie die Ausführungen zu seinem wissenschaftlichen Projekt gut ein. Teilweise sehr sachlich, teilweise anekdotisch, greifen die Beiträge von unterschiedlichen Autoren sinnvoll ineinander und schaffen so einen roten Faden, der plausibel zur Werk-Sektion überleitet und die Auseinandersetzung motiviert. So werden bereits hier zentrale Interessen und Begriffe in Husserls Phänomenologie angerissen, die im Lauf des Buches erörtert werden. Als Beispiel wird Husserls Analyse von Twardowski genannt, die gewissermaßen der Ausgangspunkt für Husserls Weiterentwicklung des Intentionalitätsbegriffs sei und damit eine bedeutende Rolle spiele: „Die Frage nach der Rolle der Intentionalität in der Relation zwischen Akt und Gegenstand, und allgemeiner zwischen Ich und Welt, wird dann zum Fundamentalproblem der Phänomenologie“ (S.30).

Im Abschnitt III A, in welchem die veröffentlichten Texte verhandelt werden, folgen die Beiträge chronologisch nach Erscheinungsjahr des behandelten und publizierten Werks. So macht denn auch die Philosophie der Arithmetik als erstes Buch, das auch den Weg in den Buchhandel fand, den Auftakt. Bereits in diesem frühen Text, so arbeitet Mirja Hartimo heraus, werden Konzepte angelegt und entwickelt, die Husserls gesamte Philosophie prägen werden. So wird die Methode der kollektiven Verbindung genannt, und zwar „als psychischer Akt, der mehrere Objekte als ein Ganzes begreift, ohne dass diese ihre Individualität verlieren“ (S.49). Hier zeichnet sich Husserls Herangehensweise ab, Logik und Erfahrungswissen zu verknüpfen, die Gesamtheit eines Phänomenbereichs im Blick zu haben, ohne dabei die Individualität und die logischen Gesetzmäßigkeiten zu verlieren. Originellerweise wendet er diese Methode auch auf die Arithmetik an, wenn er seinen Zahlbegriff aus der natürlichen Anschauung entwickelt: „Husserls Argument ist, dass man ohne die Idee einer kollektiven Verbindung nicht erklären könne, warum bestimmte Inhalte verbunden sein sollen, während andere von einer solchen Kollektion ausgeschlossen sind“ (S.52). Die Anschauung dient Husserl immer als Ausgangspunkt für seine Analysen, und in der Anschauung ist nunmal die Mannigfaltigkeit gegeben. Ein Problem sieht Husserl darin, „die Welt der reinen Logik und die Welt des Bewusstseins zu vereinen“ (ebd.), und hierin liegt, das legt Hartimos differenzierte Analyse nahe, der Ausgangspunkt für Husserls phänomenologisches Projekt, die formale Logik mit der Psychologie zu vereinen, um – im Sinne eines Arguments gegen den Psychologismus – „die Korrelation der objektiven Logik mit dem subjektiven Bewusstsein verständlich zu machen“ (S.55).

An dieser Stelle können nicht alle Beiträge im Band in der Tiefe betrachtet werden. Allen gemeinsam ist, dass sie Bezug aufeinander nehmen, zentrale Begriffe hervorheben und deren Weiterentwicklung skizzieren, was dieser Sektion eine große Stringenz verleiht. So wird das Projekt der Philosophie als strenger Wissenschaft thematisiert (Vgl. Nicolas de Warren, „Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie“), außerdem wird der Begriff der Epoché eingeführt, jene Methode, die durch Abschälung der Sinneseindrücke und die Ausschaltung der naiven Annahme der Gegebenheit der Welt definiert ist und die phänomenologische Untersuchung damit auf die reine immanente Bewusstseinsleistung beschränkt. Diese Methode wird v.a. in den Cartesianischen Meditationen erneut zentral.

Besondere Beachtung verdienen indes Nicolas de Warrens Text zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins sowie Dermot Morans Beitrag zu den Cartesianischen Meditationen. Beide Texte überzeugen durch ihre knappe und dennoch sehr lesbare Entfaltung hoch komplexer Thematiken. De Warren unterfüttert seine Betrachtungen durch kurze Exkurse zu Kant und Hegel, die als wichtige Einflüsse genannt werden und arbeitet Husserls eigenes Projekt in Abgrenzung zu Kants Zeitbegriff heraus; Zeit wird bei Husserl nicht als Abfolge von Jetzt-Punkten im Sinne eines naturwissenschaftlichen Zeitbegriffs verstanden, sondern vielmehr, im Rahmen seines Begriffs der Intentionalität, als Dauer, als Ineinandergreifen von Protention, Retention und Urimpression, was der Dimension des Zeiterlebens viel eher Rechnung trägt. Husserl gelingt hier, das verdeutlicht de Warren, eine Konzeption der Zeit als Struktur des Bewusstseins, welche für nachfolgende Autoren und auch für die heutige Forschung in anderen Disziplinen maßgeblich ist.

Die Cartesianischen Meditationen werden als Husserls „Haupt- und Lebenswerk“ (S.90) gewürdigt, in dem viele Hauptbegriffe der anderen Werke zusammengeführt und weiterentwickelt werden, auch werden wichtige Einflussgrößen diskutiert. Bei aller Komplexität und Detailfülle bleibt Morans Text kurz, präzise und dicht, ohne dabei einen übermäßigen Lesewiderstand aufzubauen.

Wie bereits in der Einleitung angekündigt, erfährt im Folgenden der Nachlass Husserls eine besondere Würdigung in Form einer recht umfassenden eigenen Sektion. Diese ist sehr plausibel und systematisch nach Themen gegliedert; auf besondere Schwierigkeiten bei der Sichtung des Materials gehen die HerausgeberInnen ein. Die Schwierigkeiten ergeben sich aus Husserls durchaus origineller Arbeitsweise, täglich Denktagebuch zu führen, dabei immer neue Ideen anzureißen, auszuprobieren, zu verwerfen oder weiterzuentwickeln, was zwar produktiv ist, aber auch ganz eigene Herausforderungen bei der Aufbereitung birgt. Umso mehr sei die sorgfältige Zusammenstellung der Beiträge entlang der wichtigsten Themen und Begriffe in Husserls Werk gewürdigt, die sowohl das gesamte Projekt der Phänomenologie unter verschiedenen Gesichtspunkten (als Erste Philosophie, Im Grenzbereich zur Psychologie, Intersubjektivität u.a.) beleuchtet, als auch große Themenbereiche wie Erkenntnisphilosophie und Logik und zu guter Letzt auch auf Kernthemen aus Husserls Schaffen eingeht, wie Lebenswelt und Räumlichkeit.

Im Anschluss benennt der Band Personen, die durch Husserl maßgeblich beeinflusst wurden, darunter natürlich Martin Heidegger – der wohl prominenteste Zeitgenosse Husserls, wobei wohl das gleichzeitig äußerst inspirierende und problematische Verhältnis der beiden maßgeblich für diese Prominenz war und ist. Dies stellt Thomas Nenon in seinem Beitrag sehr gut dar. Außerdem sind z.B. Sartre, Scheler, Merleau-Ponty, Ricoeur, Derrida und Foucault genannt, aber auch Husserls Einfluss in Japan wird erwähnt, in Form eines Beitrag zu Kitaro Nishida. Kritisch bemerken lässt sich, dass Edith Stein keinerlei Erwähnung findet, die als Husserls Assistentin durchaus großen Anteil an manchen Werkphasen hatte – wie immerhin in der Einleitung erwähnt wird – und eine Theorie der Einfühlung entwickelte, die durch Husserl ebenfalls inspiriert war.

Die letzte Sektion setzt sich mit dem Einfluss Husserls auf verschiedene Denkrichtungen und Disziplinen auseinander. Hier wird einmal mehr deutlich, welch große Rolle seine Theorien für die – nicht nur philosophische – Wissenschaft seit dem letzten Jahrhundert spielen.

Alles in allem liegt mit diesem Handbuch ein äußerst bereicherndes Werk für die Auseinandersetzung mit Husserls Philosophie vor. Durch seinen hohen Detailreichtum, seine enorme Dichte und Tiefe bei gleichzeitig überzeugender Struktur, hoher Lesbarkeit und seiner sehr gelungenen Auswahl an Autoren bietet es Kennern eine gute Handreichung und ein solides Nachschlagewerk, aber auch Einsteigern und an Husserls Philosophie Interessierten, die sich einen Überblick verschaffen mögen, ist es eine wertvolle Quelle. Es eignet sich sowohl zum Nachschlagen einzelner Themen und Begriffe, als auch zur Lektüre insgesamt, was dem klugen Aufbau und dem sinnvollen Ineinander der einzelnen Artikel zu verdanken ist.

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