Jonas Puchta
Verlag Karl Alber
2019
Paperback 24,00 €
120
Reviewed by: Jonas Puchta (University of Rostock)
Nach sechzigjähriger Schaffenszeit widmet sich Hermann Schmitz, der Begründer der Neuen Phänomenologie, in seinem 56. Buch der Individuation der Person als „Geschichte der Selbstwerdung“. Dabei entfaltet er sein Denken nicht grundsätzlich neu, sondern reformuliert Grundthemen der Neuen Phänomenologie wie das „affektive Betroffensein“, den „Leib“ oder die „Zeit“, die in zehn Kapiteln den „Zugang zur Welt“ der Person ersichtlich werden lassen. Zwar sind die Kapitel auch unabhängig voneinander lesbar, jedoch so konzipiert, dass sich bei sukzessiver Lektüre die „Selbstwerdung“ des Menschen nachvollziehbar entfalten soll.
Der Weg zur Selbstwerdung setzt ein mit dem „affektiven Betroffensein“, das stattfindet, wenn jemanden etwas spürbar so nahegeht, dass er auf sich selbst aufmerksam wird. (13) Dafür ist kein bestimmtes Denk- oder Reflexionsvermögen von Nöten, sodass auch schon Tiere oder Säuglinge affektiv betroffen sind. (Ebd.) Die Tatsachen des affektiven Betroffenseins sind für Schmitz subjektive Tatsachen, die er von den objektiven unterscheidet. Während subjektive Tatsachen ausschließlich die Person aussagen kann, die auch tatsächlich spürbar betroffen ist, können objektive Tatsachen von jedem ausgesagt werden, der ausreichend Informationen über den Sachverhalt besitzt (13, 15f.). Objektive Tatsachen umfassen beispielsweise den Blick eines distanziert protokollierenden Beobachters, während die subjektiven Tatsachen den unmittelbar Getroffenen nahegehen. (16, 19f.) Die Missachtung der Subjektivität in der Philosophiegeschichte führte, so Schmitz, zu einer Spaltung des „wirklichen Subjekts“ in ein erscheinendes empirisches und ein metaphysisches transzendentales Subjekt, das von der Lebenswelt des Menschen gänzlich unabhängig ist, und wird somit zur Grundlage „aller möglichen idealistischen Erkenntnistheorien“. (20f.) Das affektive Betroffensein soll dabei zugunsten von Konzepten der Seele oder des Bewusstseins übersehen worden sein, die Schmitz anhand seiner Analysen der Leiblichkeit und der Gefühle überflüssig machen will. (23f.)
Dazu beleuchtet er zunächst im zweiten Kapitel die Atmosphären des Gefühls als eine Quelle des affektiven Betroffenseins. Dabei will Schmitz über die philosophische Tradition hinausgehen, wobei er Kants Position kritisiert, Gefühle als bloße Lust oder Unlust aufzufassen und Brentano und Scheler vorwirft, diese auf intentionale Akte zu reduzieren. (37) Dafür sei es erforderlich, sich in „phänomenologisch haltbarer Weise“ zu vergewissern, wie Gefühle dem Menschen begegnen. (Ebd.) Atmosphären wie Zorn, Freude oder Schuld ergreifen den Leib spürbar so, dass die Person immer erst nachträglich zum Gefühl Stellung beziehen kann. (26, 28) Die „Macht“ der Atmosphären besteht im Moment der Ergriffenheit, wenn dem zunächst passiv Betroffenen bestimmte „Bewegungssuggestionen“ eingegeben werden und dieser so dem Gefühl anfänglich unterworfen ist. (47) Diese spürbaren Bewegungen oder Richtungen geben dem Ergriffen zum Beispiel gewisse Haltungen oder Impulse ein, wie es am gesenkten Kopf eines Trauernden zu beobachten ist. (Ebd.) Die „Gesinnung“ als aktives Empfangen des Gefühls, welches auch schon bei Tieren vorhanden ist, stellt sich als bestimmte präpersonale Art des Sich-Einlassens auf das Gefühl heraus (27f.), wenn sich zum Beispiel auf die Trauer weinerlich oder standhaft eingelassen wird. Erst in der darauffolgenden aktiven personellen Stellungnahme im „Dialog“ mit dem Gefühl ist es aber möglich, einen „personalen Stil des Fühlens“ als Teil der personellen „Fassung“ zu entwickeln, die zwischen „personaler Regression“ und „personaler Emanzipation“ vermittelt. (27, 38, 107) Die Stellungnahme variiert dabei zwischen einer Preisgabe an das Gefühl, wenn sich der Betroffene von diesem mitreißen lässt oder im Widerstand, bei dem sich der Macht der Ergriffenheit entzogen wird. (27f.) Die „Kunst der Bewältigung“ des Gefühls besteht für Schmitz darin, die Zeit zwischen Ergriffenheit und Stellungnahme kurz zu halten (48), also frühzeitig die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit der Gefühlsmacht wahrzunehmen, wobei eine konkrete Beschreibung dieses Umgangs ausbleibt.
Wie Schmitz im dritten Kapitel verdeutlicht, ist das affektive Betroffensein nicht nur für die Wirklichkeitsgewissheit, sondern auch für die Lebensführung von Bedeutung. (52) Die „Autorität der Gefühle“ wie auch die „Evidenz von Tatsachen“ sind Möglichkeiten, die Verbindlichkeit von Normen geltend zu machen. Gefühle haben im Moment der Ergriffenheit eine Verbindlichkeit von Normen mit der „Autorität unbedingten Ernstes“, welche die Person vor eine große Verantwortung im Handeln stellt. (53) Auf dem „höchsten Niveau personaler Emanzipation“, das Schmitz auch mit der „Vernunft“ gleichsetzt, gilt es zu überprüfen, ob sich der Evidenz oder der Autorität zu entziehen oder zu unterwerfen ist, ohne dabei von einer ethischen Handlungsmaxime auszugehen, die auf jede Situation gleichermaßen anzuwenden ist. (54, 60) In dieser Hinsicht wird der „Vernunft“ wie auch dem Rationalismus ihr Recht eingestanden, wenn es „angemessener Informationen“ oder der sinnvollen Einschätzung über eine Sachlage bedarf. (55) So muss beispielsweise der Wissenschaftler, der bei seiner Arbeit von Zorn oder Eifer ergriffen ist, sich zugunsten seiner Erkenntnisse von diesen Gefühlen freimachen. (Ebd.) Daran anschließend geht Schmitz beiläufig im vierten Kapitel der Bedeutung der „Autorität der Gefühle“ im Christentum nach, das er von der Metaphysik losgelöst sehen will. (57, 62) Religion wird verstanden als „Verhalten aus Betroffensein von Göttlichem“ (57) und ist damit ursprünglich immer mit einer spürbaren Erfahrung verbunden und nicht auf bloße Lektüre oder Rezeption heiliger Schriften zu reduzieren. Göttliche Gefühle entfalten ihre Kraft aus der ihnen eigentümlichen Autorität unbedingten Ernstes (59), sind aber auch eingebunden in unübersichtliche Situationen. In diesen werden die Gefühle oftmals als „Plakatierungen“ – der Begriff ist hier frei von negativen Konnotationen zu verstehen – anschaulich „zusammengefasst“, worunter Schmitz vor allem Feste, Symbole, Personen, aber auch die Götter selbst versteht. (60f.) Ohne sich als Christ oder zur Religiosität zu bekennen, hält er dem Christentum zugute, die Autorität eines Gefühls mit unbedingtem Ernst, wie der Liebe, dem gegenwärtigen „ironistischen Zeitalter“ entgegen zu halten, das sich in einer haltlosen Beliebigkeit des „Anything goes“ oder der „Coolness“ verrennen soll. (62f.)
Alles affektive Betroffensein ist leiblich spürbar vermittelt, weshalb der Leib als wesentlicher Ausgangspunkt der menschlichen Lebenserfahrung vom äußeren sicht- und tastbaren Körper, der zum Beispiel Gegenstand der Naturwissenschaft ist, unterschieden wird. (65f.) Während der Körper in einem flächenhaltigen messbaren Raum zu verorten ist, sind der Leib wie auch die Atmosphären flächenlos (40, 66f.), woraus aber kein an die Philosophietradition anknüpfender Dualismus zwischen Leib und Körper abzuleiten ist. (67) Der Leib wird vielmehr durch „Einleibung“ mit dem Körper dynamisch zusammengeschlossen, was zum Beispiel dann ersichtlich wird, wenn „Bewegungssuggestionen“ der Musik den Leib ergreifen und sich auf die körperlichen Glieder beim Tanzen „übertragen“. (68) Schmitz gesteht ein, dass der Körper für die Funktionen des Leibes von Bedeutung ist, verweist aber mittels Phantomglieder oder Berichten von Nahtoderfahrungen auf die Möglichkeit, eines nicht notwendigen oder dauerhaften Zusammenhanges, (70) wobei er darüber hinaus keine „gültige Bestätigung“ bzw. eindeutig nachweisbare Kausalität vorliegen sieht, dass der Leib aufgrund körperliche Prozesse entsteht oder auf diese zu reduzieren ist. (69) Zur Beschreibung der menschlichen Lebenserfahrung ist für Schmitz einzig der Leib von Bedeutung, wobei der Körper vielmehr einen „sperrigen Block“ im „In-der-Welt-sein“ des Menschen darstellt. (70) Diese Einschätzung durchzieht Schmitz´ gesamtes Werk, in dem er bewusst auf die Einbeziehung von biologischen oder physikalischen Erkenntnissen der Naturwissenschaft verzichtet. Dagegen könnte der Vorwurf laut werden, dass der Leib zu autonom von körperlichen Prozessen verstanden wird. Wenn dieser Einwand auch nicht unbegründet ist, kann Schmitz´ Bestreben aber gerade auch als Widerstand gegen das reduktionistische und mittlerweile alltägliche Selbstverständnis des Menschen gelesen werden, welches die Lebenserfahrung auf Hormonausschüttungen oder neuronale Prozesse reduziert und damit das eigentliche Erleben auszuschalten droht.
In den Kapiteln sechs bis neun beleuchtet Schmitz die Zeit, die stets an das präpersonale wie auch personale Leben geknüpft ist. Die „primitive Gegenwart“ als „plötzlicher Einbruch des Neuen“, der zum Beispiel spürbar als engender Schreck leiblich erfahrbar wird, stiftet die „absolute Identität“ und legt damit den Grundstein zur „Selbstheit“. (74f.) Die vorhergehende selbstlose Weite, wie sie zum Beispiel am Kontinuum oder im Dösen nachzuvollziehen ist, wird durch die „primitive Gegenwart“ zerrissen in die Dauer als „Urprozess“ einer Bewegung zum untergehenden „Vorbeisein“ und einer Bewegung des „Fortwährens“ zum Neuen (83) und legt damit den Ursprung der Zeit. Schmitz richtet sich gegen die alltägliche Vorstellung, dass die Zeit eine alle Prozesse umfassende Bewegung sei und bezeichnet dessen vermeintlich gleichmäßiges Voranschreiten – wie es die Bewegung einer Uhr suggeriert – als bloßes Kunstprodukt. (Ebd.) Vielmehr soll die Zeitlichkeit an die Leiblichkeit der Person geknüpft und essentieller Bestandteil der Selbstfindung des Menschen sein. Die Dynamik des Leibes, so Schmitz, ahmt demnach die Strukturen der Zeit nach, wenn die gespürte „Enge“ die Richtung zum Vergehen und die „Weite“ das Fortschreiten in die Zukunft vermitteln soll. (Ebd.) Mit dem Eintritt der „absoluten Identität“ gliedert sich die „Weite“ in Situationen (75), die auch einen wesentlichen Anteil der Zeiteinheiten ausmachen sollen. (86) Die Verteilung der Dauer orientiert sich zum Beispiel an „zuständlichen“ oder „aktuellen“ Situationen. (84f., 91f.) Der Mensch ist durch die Sprache zur „Explikation“ oder „Vereinzelung“ fähig, um so aus den Situationen einzelne Bedeutungen zu individuieren und eine konkrete Einteilung der Zeit als „modale Lagezeit“ vorzunehmen, die aus der „Modalzeit“ einerseits und der „Lagezeit“ andererseits besteht. Die ursprünglichere „Modalzeit“ spaltet sich mit dem „Einbruch des Neuen“ in die Vergangenheit, als das, was nicht mehr ist, in die Zukunft, als das, was noch nicht ist und in die Gegenwart. (89, 93) Die „Lagezeit“ ist dagegen zu verstehen als Anordnung gleichzeitiger einzelner Ereignisse oder Daten in einer linearen Folge des Früheren zum Späteren. (Ebd.) Die Verbindung von „Lage“- und „Modalzeit“ zur „modalen Lagezeit“ macht sich der Mensch zunutze, indem er wie beim Gebrauch von Uhren die Dauer in Zeitstrecken mit jeweils einzelnen messbaren Zeitpunkten einteilt (79 ff.), was für die Orientierung des Menschen unerlässlich ist. Der „gewöhnliche Rhythmus des Lebens“ geschieht aber abschließend nicht in einem allumfassenden zeitlichen Rahmen oder einer Abfolge regelmäßig aufeinanderfolgender Zeitpunkte, sondern besteht in den immer wiederkehrenden „Einbrüchen des Neuen“, welche die fortwährende ruhende Dauer „zerreißen“ und durch welche sich der Mensch auf diese Weise immer wieder selbst finden soll. (91)
Diese zeitlichen Prozesse sind auch für das Personsein des Menschen von erheblicher Bedeutung. Im letzten Kapitel fasst Schmitz seine Erkenntnisse zum Prozess der Individuation des Menschen zusammen, die er aber nicht als Geburt in eine bereits vorhandene Welt begreift. (97) Auf der ersten Stufe der bloßen Selbstlosigkeit in der Weite des Kontinuums wird mit dem „Einbruch des Neuen“ wie beim affektiven Betroffensein durch den Schreck die absolute Identität gestiftet und gleichzeitig der Ursprung der Zeit gelegt. (97ff.) Aus der „primitiven Gegenwart“ resultiert die „leibliche Dynamik“ und die „leibliche Kommunikation“, mit der auch die Bildung von bedeutsamen Situationen einhergeht. (99f.) Die „leibliche Dynamik“ differenziert Schmitz nach ihrer Bindungsform zwischen gespürter Enge und Weite, die charakteristisch für die „leibliche Disposition“ der Person wird. Aus diesen Dispositionen werden Charaktertypen abgeleitet, die sich hinsichtlich der Offenheit oder Empfänglichkeit im Umgang mit Gefühlen oder Personen unterscheiden. (33ff.) Erst der Mensch, der über das Säuglingsalter hinausgegangen ist, kann dann auf einer nächsten Stufe mittels Sprache einzelne Bedeutungen aus der Situation explizieren und sich so auf andere Weise in seiner Umgebung zurechtfinden. (101 f.) Erst auf diesem Niveau ist es möglich, von einer Person zu sprechen, die in der Lage ist, sich in einem „Netz von Gattungen“ als Etwas zu verstehen und sich zum Beispiel anhand von bestimmten Rollen zu verorten oder selbst zu bestimmen. (104) Das „Sammelbecken“ als Ort der explizierten vereinzelten Bedeutungen und Gattungen bildet daran anschließend auf einer vierten Stufe die „Welt“, die nicht statisch vorhanden ist, sondern erst mit dem fragenden Explizieren der Person entsteht. (104f., 110) Die labile Person steht in diesem Zusammenhang vor der Aufgabe, sich zwischen „personaler Regression“ wie im „affektiven Betroffensein“ und „personaler Emanzipation“ in kritischer Distanz zur Betroffenheit zurechtzufinden. (106ff.) Damit einher geht auch die immer fortwährende Bildung der „persönlichen Eigenwelt“, die sich aus den Bedeutungen ergibt, welche für die Person durch die unmittelbare Betroffenheit subjektiv sind, während die „persönliche Fremdwelt“ alle Bedeutungen umfasst, die durch Abstandnahme in der personalen Emanzipation objektiviert sind. (Ebd.)
Schmitz greift bei der Darstellung seiner Thesen auf sein umfassendes Werk zurück, um in aller Kürze und mit teilweise auffälligen Wiederholungen – bedingt durch seine Erblindung (10) – im Stil eines Vortragenden der Thematik der Selbstwerdung gerecht zu werden. Zwar wirken seine Formulierungen an einigen Stellen gedrängt und verlangen nach mehr Ausführlichkeit, jedoch sind seine Überlegungen bereits detaillierter in seinem opus magnum, dem „System der Philosophie“, angelegt und in zahlreichen Büchern weiterentwickelt. Schmitz spürt dem, was andere Philosophen wie selbstverständlich voraussetzen – dass sich der Mensch „immer schon“ in einer Welt vorfindet – akribisch nach, indem er auch den Zugang zur Welt auf der Basis strenger, phänomenologischer Begriffe beleuchtet.
Dabei scheinen seine Überlegungen in die Nähe eines Idealismus zu rücken, wenn er die Zeit stets an die Leiblichkeit knüpft und auch die Entstehung der Welt an eine explizierende Person gebunden ist. Betroffenheit wie auch die Explikation der Person sind fundamentale Bestandteile der Weltentstehung im obigen Sinne, weshalb „Selbstwerdung“ auch immer Weltwerdung mit meint. Es wäre jedoch voreilig, Schmitz´ Weltbegriff als eine Form des traditionellen Idealismus zu deuten, von dem er sich nämlich explizit abgrenzen möchte. Den „naiven Idealismus“, der den Geist des Menschen in der Rolle des „Weltbaumeisters“ übertrieben haben soll, will Schmitz mit seiner Konzeption gerade überwinden. (108) Schmitz schreibt dem Menschen keine Schöpferqualitäten zu,[1] gesteht aber ein, dass die Person durch „eigene Zusätze“ wie im bereits erwähnten Uhrengebrauch die Welt „vervollständigen“ oder zu ergänzen versucht. (108) Daneben muss auch klar sein, dass bei der Explikation der Person keine Welt aus dem Nichts konstruiert wird, denn die explizierte Bedeutsamkeit ist immer primär[2] und liegt bereits „chaotisch mannigfaltig“ vor, ist aber ohne die Leistung der Person noch nicht vereinzelt, weshalb sich Schmitz´ Konzeption auch gegen ein konstruktivistisches Weltverständnis richtet. Dass etwas existiert, ist damit nicht vollständig an die Explikationsleistung der Person gebunden.
Dass die Person aus der Weltwerdung nicht wegzudenken ist, kann sich auch auf das Philosophieverständnis des Autors zurückführen lassen. Philosophie definiert dieser von Beginn seines Schaffens an als „Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung“.[3] Einen objektiven oder distanzierten „Blick von Nirgendwo“, wie Schmitz mit Rückgriff auf Thomas Nagel formuliert (20f.), der gänzlich unabhängig von einer Person besteht, sucht man bei diesem „Sichfinden“ des Menschen vergeblich, denn affektives Betroffenensein des Leibes oder fragendes Explizieren in einer bestimmten Situation sind unhintergehbare Bestandteile des menschlichen Lebens. Schmitz fundamentaler phänomenologischer Anspruch, diese Facetten der Lebenserfahrung herauszustellen, spiegeln sich gerade in seinem Weltverständnis wider, dass sich auch deshalb unvereinbar mit dem Naturalismus von diesem unterscheidt.
Seine Konzeption ist aber auch kaum mit dem Weltverständnis des „Neuen Realismus“ vereinbar wie ihn Markus Gabriel prominent zu begründen versucht und der sich damit ebenfalls gegen die Vorherrschaft des Naturalismus behaupten will.[4] Schmitz´ Buch „Gibt es die Welt?“[5] kann zumindest dem Titel nach als unausgesprochene Antwort auf Gabriels zuvor erschienenes Werk „Warum es die Welt nicht gibt“ gelten, aber auch anderweitig stellte er immer wieder Bezüge her. (51f.)[6] Gabriel richtet sich gegen die These, dass es eine Welt als absolute Totalität geben könnte, weil man stets unfähig ist, diese vollständig zu beschreiben.[7] Stattdessen will er im Rahmen seiner „Sinnfeldontologie“ zeigen, dass Gegenstände in unzähligen „Sinnfeldern“ vorkommen und das die Rede von Existenz bedeutet, dass etwas in einem solchen „Sinnfeld“ „erscheint“.[8] Im Vergleich zu diesem Ansatz bekämpft auch Schmitz einen Weltbegriff, der traditionell als einheitliche und absolute Totalität postuliert wird, verwendet dabei aber grundsätzlich andere Mittel. Dass es primär Gegenstände sein sollen, welche ein Sinnfeld ausfüllen, muss für Schmitz aufgrund seines phänomenologischen Anspruchs befremdlich wirken. Denn er will primär gerade nicht von bloßen Gegenständen ausgehen, sondern von ganzheitlichen Situationen, aus denen erst sekundär einzelne Bedeutsamkeit und nicht vordergründig Gegenstände individuiert werden. Daher müsste für ihn auch anstatt vom „Erscheinen“ von der „Explikation“ die Rede sein, die eng an die Leistung der Person und der Selbstwerdung gebunden ist, aber in Gabriels Überlegungen kaum eine Rolle spielen. Während dieser in seiner Ontologie den Weltbegriff verabschieden will und deshalb auch das „Zur-Welt-Kommen“ des Menschen nicht im Blick hat, versucht Schmitz´ das traditionelle Weltverständnis durch ein neues zu ersetzen. Bei allen Unterschieden zwischen den Autoren verfolgen aber beide immerhin eine gemeinsame Absicht: Denn neben der Kritik am Naturalismus richtet sich Gabriels philosophisches Vorhaben auch gegen einen radikalen Konstruktivismus[9], weshalb eine Verständigung zwischen den Autoren nicht von vorneherein auszuschließen, sondern vielmehr ertragreich sein kann.
Schmitz versucht in seinen Beiträgen zur „Geschichte der Selbstwerdung“ und der damit einhergehenden Weltentstehung, sowohl den Realismus als auch den Idealismus hinter sich zu lassen. Weder die Person noch die Welt sind einfach statisch vorhanden, wenn die erstere immer wieder durch spürbare Erfahrungen auf sich aufmerksam wird, um letztere erst durch Sprache für sich und andere ersichtlich zu machen. Unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung vermag Schmitz es so, stufenartig die Geschichte der Selbstwerdung und damit auch die Grundlagen der Person aufzuzeigen.
[1] Hermann Schmitz, Wozu philosophieren? (Freiburg/München: Karl Alber, 2018), 94.
[2] Hermann Schmitz, Adolf Hitler in der Geschichte (Bonn: Bouvier, 1999), 27.
[3] Hermann Schmitz, System der Philosophie Bd. 1: Die Gegenwart (Bonn: Bouvier 2005 [1964]), 14.
[4] Vgl. Markus Gabriel, Sinn und Existenz (Berlin: Suhrkamp 2016), 89-94.
[5] Für den Bezug zu Gabriel vgl. Hermann Schmitz, Gibt es die Welt? (Freiburg/ München: Karl Alber 2014), 21, 26.
[6] Vgl. zum Beispiel Hermann Schmitz, Ausgrabungen zum wirklichen Leben (Freiburg/München: Karl Alber 2016), 245.
[7] Eine Möglichkeit, dies zu beweisen, entwickelt Gabriel mit dem „Listenargument“. Vgl. Gabriel, Sinn und Existenz, 45ff.
[8] Vgl. z.B. Gabriel, Sinn und Existenz, 163f., 173f., 183f.,191f., 193f.
[9] Vgl. Gabriel, Sinn und Existenz, S. 34f., 174f.