Gilles Deleuze: Letters and Other Texts

Ralf Gisinger

Gilles Deleuze: Letters and Other Texts Book Cover Gilles Deleuze: Letters and Other Texts
Gilles Deleuze. Edited by David Lapoujade. Translated by Ames Hodges
Semiotext(e)
2020
Paperback $19.95
312

Reviewed by: Ralf Gisinger (University of Vienna)

“Don’t think I am a compulsive letter writer or that I have a sense of dialogue. I hate it.”/ „Denken Sie nicht, ich sei ein gewissenhafter Briefeschreiber oder dass ich einen Sinn für Dialog habe. Ich hasse es.“ (72, an Gherasim Luca; Übers. RG)[1]

 

Die lange erwartete englische Übersetzung des 2015 im französischen Original erschienen Buchs Letters and Other Texts ist der dritte und letzte von David Lapoujade zusammengestellte bzw. herausgegebene Band mit posthum erschienen Sammlungen von Deleuze-Texten nach Die einsame Insel (2002) und Schizophrenie und Gesellschaft (2003).[2] Daneben existieren noch die zu Lebzeiten Deleuzes (1925-1995) von ihm selbst arrangierten Textkompilationen Unterhandlungen (1990) sowie Kritik und Klinik (1993).

Zum 20. Todesjahr Deleuzes publiziert, bietet der Band neben den Briefen vor allem schwer erhältliche sowie einzelne noch nicht erschienene Texte, aber auch ein längeres Interview (zusammen mit Félix Guattari) und 5 Zeichnungen von Deleuze. Während die beiden vorhergehenden Anthologien chronologisch und zeitbezogen strukturiert sind, kommt dem vorliegenden Band mehr die Rolle eines „Restbestands“ von noch unveröffentlichten (oder lange nicht verfügbaren) Schriften zu, wenngleich dies die Lektüre abwechslungsreich und immer wieder spannend gestaltet. Trotz der ausführlichen und gelehrsamen Einordnungen von Lapoujade (besonders in den Briefen) ist eine Kenntnis der Werkgeschichte von Deleuze eine Voraussetzung, um die tour de force an Zeitsprüngen und Textgenrewechseln inhaltlich mitzuvollziehen. Und doch liegen die Vorteile der kurzen Texte, wie schon in Die einsame Insel sowie Schizophrenie und Gesellschaft auf der Hand: in Briefen, Interviews oder Essays wird den schwierig verständlichen philosophischen Konzepten manchmal mehr Leben eingehaucht indem beispielhaft erklärt, pointiert zusammengefasst oder fast schon entstellend verkürzt wird. Sollten Die einsame Insel und Schizophrenie und Gesellschaft (aber auch Unterhandlungen), die damit schon seit über 15 Jahren fester Bestandteil des Forschungskorpus rund um Deleuze (und Guattari) sind, demensprechende Erwartungen an Letters and Other Texts geweckt haben, lässt sich dieser Anspruch natürlich nicht gänzlich erfüllen. Jedoch gibt es, neben tatsächlich eher belanglosen Briefen, immer wieder interessante Korrespondenzen (vor allem mit Guattari, Villani, Klossowski, Foucault oder Voeffray), die sowohl philosophische als auch allgemeine Einblicke in die Lebenswelt von Deleuze und seinen Adressaten über eine Zeitspanne von nahezu vier Jahrzehnten geben. Das Highlight des Buches ist sicher ein erstmals publiziertes gemeinsames Interview mit Guattari (geführt von Raymond Bellour im Frühjahr 1973) über den Anti-Ödipus (1972), aber auch die Unterlagen für einen „Course on Hume (1957-1958)“, der Einblicke in Deleuzes pädagogische Herangehensweise in Bezug auf Hume erlaubt, oder das zwar schon länger kursierende, aber erstmals seit 1946 wieder abgedruckte „From Christ to the Bourgeoisie“ empfehlen sich für eine durchaus lohnende Lektüre.

Der Anspruch auf Vollständigkeit der Edition von Deleuzes Schriften sowie die damit einhergehende Nachvollziehbarkeit, Auffindbarkeit und Übersetzung ist ein hoch zu schätzender Verdienst Lapoujades. Aus diesem Grund wird das „Patchwork“ bzw. der mangelnde rote Faden des Buchs nicht nur in Kauf genommen, sondern bildet sogar dessen notwendiges Grundgerüst, wird es eben als Ergänzung zu den bisher erschienenen Sammelbänden verstanden. Gleichzeitig muss konzediert werden, dass viele dieser Texte ohne den starken Aufschwung und die zunehmende Popularität von Deleuze in den letzten Jahren – insbesondere im englischsprachigen Raum – sonst wohl nicht nochmal abgedruckt worden wären

So reicht Letters in Bezug auf die Erschließung des Gesamtwerks (sowohl für die Deleuze-Forschung als auch zur allgemeinen Verständlichkeit von Deleuze und Guattari) nicht an die vorhergehenden Sammelsurien heran, die deutlich reichhaltigere Quellen an kurzen Texten in der Form von zumeist autorisierten Interviews, Zeitschriftenartikel, Gesprächen und Briefen, beinhalten, welche sich vor allem um zusätzliche Erläuterungen, konzise Zuspitzungen, konkrete Anwendungen oder Verteidigungen der eigenen Theorien drehen. Damit sind sie von herausragender Bedeutung, um die Intentionen, Abläufe und Prozesse von Deleuzes Denken und Schaffen nachzuvollziehen. Dafür wird mit dem Fokus auf Briefe eine persönlichere, ja geradezu private Ebene erschlossen (wobei stets in einem professionellen Rahmen verbleibend), die eine gewisse theoretische Kraft entfalten kann, auch wenn dies kritisch betrachtet werden sollte.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert:

Der erste Teil beinhaltet Briefe an Félix Guattari, Michel Foucault, François Châtelet, Pierre Klossowski, Jean-Clet Martin, aber auch an außerhalb Frankreichs weniger bekannte Personen wie Jean Piel, Arnaud Villani, Alain Vinson, Clément Rosset, Elias Sanbar, André Bernold, Joseph Emmanuel Voeffray und Gherasim Luca. Dabei wurden einzig einige der Briefe an Arnaud Villani und Gherasim Luca sowie der erste an Alain Vinson vorher schon veröffentlicht.

Wie schon in den vorangegangen Textsammlungen bettet Lapoujade zu Beginn jeden der chronologisch geordneten Briefe in die jeweilige Zeit ein und gibt anderweitigen Kontext zu den Adressaten sowie zu Ereignissen, Umständen, Texten oder Personen, auf die in den Zuschriften referiert wird. Auch ein Namensindex am Ende des Buches leistet Hilfe bei Einordnung und Recherche. Leider befinden sich in der vorliegenden auf Englisch übersetzten Ausgabe in den Fußnoten einige kleine Fehler (z.B. 27; 29; 69 oder 97), die im französischen Original so nicht vorkommen.

Auch für langjährige Deleuze-Leser:innen dürften die 5 Zeichnungen überraschend anmuten (101ff.), die von Karl Flinker 1973 in einem Heft zu Foucault und Deleuze unter dem Titel „Faces et Surfaces“ [Seiten/Gesichter und Oberflächen] veröffentlicht wurden. Diesen Illustrationen folgen im zweiten Teil des Buches die „Other Texts“, diverse Texte, die entweder lange nicht verfügbar waren, zu unterschiedlichen Zeiten in Zeitungen beziehungsweise als Rezensionen oder noch gar nicht erschienen sind, was auf den „Course on Hume (1957-58)“ (119ff.) sowie ein Interview von Deleuze und Guattari mit Raymond Bellour (auf Vorschlag Foucaults) über den Anti-Ödipus (195ff.) zutrifft.

Des Weiteren sind im dritten Teil des Bandes fünf als „Jugendwerke“ deklarierte Schriften enthalten, die Deleuze zwischen seinem 20. und 22. Lebensjahr verfasst, allerdings später wieder zurückgezogen hat.

Wie im Titel programmatisch angekündigt, liegt das Hauptaugenmerk von Letters and Other Texts auf von Deleuze gesendeten Briefen, die zwar nach Personen chronologisch angeordnet sind, jedoch keine Antworten inkludieren, weshalb auch nicht von vollständigen Briefwechseln gesprochen werden kann. Dementsprechend erscheinen die Briefe trotz der ausgezeichneten Kontextualisierung Lapoujades teilweise zusammenhangslos beziehungsweise mit vielen Jahren Abstand. Gemäß dem Titel werde ich mich auch in folgender Rezension primär auf die Briefe konzentrieren.

Dass die im Buch versammelten Briefe keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben können, ist zwar evident, wird aber auch nicht explizit erwähnt. Lapoujade gesteht in der Einführung zu, dass die Briefe im Œuvre Deleuzes keine zentrale Rolle einnehmen, da Deleuze diesen keine Wichtigkeit einräumte und sie nicht als Teil oder Erläuterung seines Werks ansah (7). In dem Band sind ausschließlich von Deleuze geschriebene Briefe, nicht aber von den jeweiligen Adressaten enthalten – begründet wird dies damit, dass er keine Korrespondenzen aufbewahrte, wobei nicht ganz klar wird, ob vom Herausgeber eine solche Rekonstruktion von Briefwechseln überhaupt angestrebt wurde.

Es ist davon auszugehen, dass Deleuze außerdem die vollständige Veröffentlichung seiner Briefe nicht vorsah und wahrscheinlich auch nicht erwartet hätte, da er bei der Autorisierung (so etwa bei der auszugsweisen Publikation seines Briefs über Kant an Alain Vinson (17f.)) äußerste Zurückhaltung an den Tag legte. Die Diskussion um Deleuzes Verhältnis zu Briefen flammte posthum schon mit dem Nachruf Clameur de l’être (1997; Geschrei des Seins) von Alain Badiou (*1937) auf, in dem dieser nicht nur seine eigenwillige Interpretation von Deleuze niederschrieb („Metaphysik des Einen“), sondern freimütig sein (Nicht-)Verhältnis zu Deleuze aus seiner Sicht schildert, welches sich jedoch ausschließlich anhand des Narrativs von Badiou nachvollziehen und einschätzen lässt. Nach einer jahrzehntelangen Distanz und offenen (vornehmlich politisch induzierten) Kontroversen begannen die beiden Anfang der 1990er-Jahre einen kurzen, aber intensiven Briefwechsel über ihre theoretischen Divergenzen. Nach Badious Darstellung brach Deleuze, schon in seinen letzten Lebensjahren und durch Krankheit geschwächt, die Korrespondenz 1994 abrupt ab, teilte Badiou die Vernichtung der Briefe mit und verbat sich eine Veröffentlichung ebendieser (Badiou 2003, 14).

So interessant dieser Austausch für Wissenschaft und Öffentlichkeit wäre, wird Deleuzes Wunsch natürlich entsprochen und es finden sich keine Briefe an Badiou in Letters and Other Texts. Die beschriebene Episode wirft allerdings die Frage auf, nach welchen Kriterien die Briefe in Letters zusammengestellt wurden, was in dem Buch leider nicht ausgeführt wird: anhand der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit oder des Ausbleibens eines dezidierten Veröffentlichungsverbot? Das editorische Problem, über keine Antworten der Empfänger zu verfügen, wird zwar in der Einleitung angesprochen, das moralische Problem der Veröffentlichung jedoch nur auf Deleuzes Frühwerke bezogen. Wenn Lapoujade in der Vorbemerkung Deleuzes allgemeines Verhältnis zu Briefen thematisiert, erkennt er zwar eine Ambivalenz an, lässt die Leser:innen aber nicht an weiteren Überlegungen zu diesem grundsätzlichen Dilemma teilhaben.

Ein ähnlich gelagertes Problem wie die Briefe betrifft die frühen Texte „Description of Women“ (1945), „From Christ to the Bourgeoisie“ (1946), „Words and Profiles“ (1946), „Mathesis, Science, and Philosophy“ (1946) sowie „Introduction to Diderot’s La Religieuse“ (1946), die vor 1953 erschienen sind, von Deleuze allerdings wie schon erwähnt später zurückgezogen wurden. Argumentiert wird dies durchaus überzeugend damit, dass diese (teilweise in veränderter/verfälschter Form) schon in Deleuze-Zirkeln kursiert seien und deshalb auf dieses Faktum nur mehr mit der Edition reagiert werden könne. Somit geht es Lapoujade und den Rechteinhaber:innen Fanny, Émilie Deleuze sowie Irène Lindon darum, eine autorisierte sowie originale Form dieser Texte zu gewährleisten. Die vorangestellte provisorische Bibliographie (11ff.) – von Deleuze wahrscheinlich 1989 erstellt – beginnt mit Empirismus und Subjektivität, seinem Hume-Buch 1953, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, wird somit die in Letters and Other Texts vollzogene Unterminierung der bewussten Auslassung seiner Frühschriften gleich von Anfang an ins Werk gesetzt.

Die Warnung, die Deleuze an Arnaud Villani 1981 ausspricht – „Don’t let me become an object of fascination or headache for you.” (80) – kann jedenfalls für die akademische Auseinandersetzung schon lange (zurecht) als überholt gelten. Mit dem vorliegenden Band dringt die Faszination in noch deutlich weitere Bereiche vor, die Deleuze selbst wahrscheinlich besagte Kopfschmerzen bereitet hätten. Obwohl Deleuze jungen Doktoranden in einer Mischung aus Bescheidenheit und Sorge um ihre universitäre Karriere rät, den Fokus ihrer Thesis nicht hauptsächlich auf ihn zu richten (an Villani, 80; an Voeffray, 91; an Martin, 94), nimmt er spätestens mit diesem Band einen Platz im historisierten Kanon ein, wo jedes jemals geschriebene (sowie gesprochene) Wort seziert und akademisch verwertet wird, was selbstredend auch auf den Autor dieser Zeilen zutrifft. Gerade die (immer auch, aber nicht nur) privaten Briefwechsel legen Zeugnis davon ab, wie sich die Deleuze-Rezeption diesbezüglich intensiviert und auch historisiert hat, sodass Letters nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form über die vorhergehenden Die einsame Insel und Schizophrenie und Gesellschaft hinausgeht. Deleuze formuliert in diesem Sinne an Joseph Emmanuel Voeffray reuevoll: “I should never have read a book on me at all.” (91).

Wie bereits ausgeführt, sah Deleuze das Medium „Brief“ einerseits nicht als übermäßig bedeutsam an, weshalb auch keine seiner empfangenen Zuschriften erhalten sind (denken wir an die vorher geschilderte Episode mit Badiou), andererseits auch nicht als eine Erweiterung seiner im Entstehen begriffenen Arbeiten, sondern entkoppelt von seinen Publikationen. Direkte, wenn auch kokettierende Verweise auf sein Verhältnis zu Briefen aus Letters and Other Texts sind etwa das eingangs zitierte: “Don’t think I am a compulsive letter writer or that I have a sense of dialogue. I hate it.” (72, an Gherasim Luca) oder an Pierre Klossowski: “I can no longer write a letter, it’s terrible. Effect of the solitude I nonetheless love.” (66)

Dies spiegelt sich zum Großteil auch in den Briefen selbst wider, die zwar spannende Einblicke in das Leben von Deleuze geben, so etwa in seine Lektüren, Aufenthaltsorte oder auch seinen Gesundheitszustand – dabei stets mehr beruflich als privat. Allerdings geht Deleuze in den Schreiben kaum philosophisch in die Tiefe oder gibt Erläuterungen für sein Werk bzw. seine Konzepte – mit faszinierenden Ausnahmen, auf die ich zurückkommen werde. Nur folgerichtig, wenn man bedenkt, was er Clément Rosset 1981 als Entschuldigung, Villani nicht in Paris getroffen zu haben, mitteilt: „[…] philosophical conversations are a pain” (23).

Begeben wir uns jedoch auf die Ebene der Entstehungskontexte, so ergeben sich interessante Zusammenhänge, von denen wiederum Rückschlüsse für andere Werke gezogen werden können.

So schreibt er im April 1968 an Jean Piel, dass ein Artikel zu Lewis Carroll derart den Rahmen von Umfang und Fragestellung sprenge, so dass es sich zu einem Buch entwickle (33). Betrachtet man das daraus entstandene Logik des Sinns (1969) unter dieser Voraussetzung als aus einem Text zu Carroll entstanden, lädt dies zu einer dementsprechend gewichteten Re-Lektüre durch diese Brille ein.

Der allgemeine Duktus der Schriften orientiert sich an einem Vorsatz, den er an François Châtelet im Jahr 1966 so formulierte: man benötige eine gewisse Wertschätzung um über etwas zu schreiben. So sei es ihm (Deleuze) lieber, gar nicht zu schreiben anstatt eines Verrisses (27). Diese Haltung scheint über weite Strecken auch in den Briefen durch, die geprägt von Höflichkeit, Anerkennung, Wertschätzung und Zuneigung sind, auch wenn dies sicherlich einer stilistischen Komponente geschuldet ist.

In den vorhergehenden Textsammlungen erschienen bereits Briefe, die in Letters nicht mehr aufgenommen wurden, so etwa an Jean-Clet Martin, Kuniichi Uno, Dionys Mascolo (Schizophrenie und Gesellschaft) sowie der „Brief an einen strengen Kritiker“/Michel Cressole  (Unterhandlungen), wobei insbesondere der Brief an Cressole (aber auch an Martin) durchaus eine Öffentlichkeit über den eigentlichen Empfänger hinaus adressiert – siehe auch den Verweis auf Cressole im Schreiben an Villani (77). Die Briefe ermöglichen einerseits die Erläuterung von schwer zu fassenden Begriffen [concepts] seiner Philosophie in einem einfacheren Stil, andererseits geben sie Innenansichten über Enstehungskontexte, Arbeitsweisen oder Methoden. In der Polemik gegen Cressole findet sich neben den Hinweisen auf seine philosophische Evolution etwa die berühmte Stelle über Deleuzes eigenes philosophisches Lesen und Produzieren, nämlich klassische Philosophen „von hinten zu nehmen“ und ihnen ein monströses Kind zu machen, das trotzdem ihres sei (Deleuze 1993, 15f.). Aber auch die Darstellung der ödipalen und repressiven Funktion der Philosophiegeschichte für das Denken stammt aus dem Schreiben an Cressole. Dagegen beleuchtet Deleuze in der Korrespondenz mit Uno besonders das Kennenlernen sowie die Zusammenarbeit mit Guattari in einer detaillierten Ausführlichkeit, wie sie sonst nicht bekannt wäre (Deleuze 2005, 223ff.). Und in dem Brief an Martin beschreibt er konzise die philosophische Operation der Begriffsschaffung [création], die sich stets am Konkreten zu orientieren habe, um erst von diesem zu Abstrakta vorzudringen (Deleuze 2005, 345).

Es ließe sich jedoch vermuten, dass die schon publizierten Briefe (in Unterhandlungen und Schizophrenie und Gesellschaft) inhaltlich begründet, d.h. aufgrund ihrer theoretischen Relevanz bereits in diesen Bänden erschienen sind, weshalb Letters and Other Texts ein wenig wie ein Residuum anmutet, wenngleich auch daraus wichtige und interessante Passagen für die Deleuze-Forschung zu extrahieren sind. Neben den bereits erwähnten Exzerpten sind dies vor allem:

  • Nachträgliche Werkeinordnungen, wie zum Beispiel in einem Brief an Arnaud Villani 1981, in dem Deleuze die Wichtigkeit seines Textes über den Strukturalismus (Deleuze 2005, 248ff.) sowie Teilen von Logik des Sinns relativiert, welche noch zu sehr der Psychoanalyse verhaftet bzw. in Bezug auf die Serien zu strukturalistisch gedacht seien (79).
  • Ein Schreiben an Joseph Emmanuel Voeffray 1982 primär über transzendentalen Empirismus (88f.), in dem Deleuze einen Bogen von den Problemen seiner Hauptwerke Ende der 1960er (Differenz und Wiederholung; Logik des Sinns) zu seiner aktuellen Beschäftigung (kurz nach Tausend Plateaus) spannt und besonders auf die stattgefundene Verschiebung zum Komplex „Abstrakte Maschine—Konkretes Gefüge“ verweist. Gleichzeitig deutet sich schon die Wiederaufnahme des transzendentalen Empirismus im Spätwerk an (89).
  • Die Selbstbezeichnung „pure metaphysician“ (78) aus einer Beantwortung von Fragen an Arnaud Villani 1980, die sich bereits zur Chiffre in der Deleuze-Forschung verselbständigt hat. Der Kontext dieser Charakterisierung liegt darin, den Schluss von Tausend Plateaus als Kategorientafel im Sinne Whiteheads (nicht Kants) zu verstehen (Deleuze/Guattari 1992, 695ff.). Im Anschluss an Bergson gehe es darum, den modernen Wissenschaften eine Metaphysik zu geben (78). Etwa in der Interpretation von Bonta/Protevi gelingt Deleuze (und Guattari) dies mit der Geophilosophie, allerdings beschreiben sie es als Deleuzes Ontologie, nicht als Metaphysik (Bonta/Protevi, 2006, viii).
  • Besagter Fragebogen von Villani, welcher allerdings zuvor schon in dessen Buch La Guêpe et l’orchidée (1999) erschienen ist, bietet auch sonst interessante Gesichtspunkte, so etwa die Philosophie als Wissenschaft zu klassifizieren, wenn sie die Bedingungen der Problematisierung bestimme (78).
  • Ausgesprochen informativ ist ein Verweis auf von Deleuze selbst ausgewählte kurze Textauszüge seiner Schriften (nur 2-10 Seiten) in einem Brief an Elias Sanbar im Jahre 1985 für eine Anthologie auf Arabisch (92f.). Ohne diese Selektion zu einem „Best-of“ erklären zu wollen, wirft sie ein Schlaglicht auf Passagen, die Deleuze selber (aus der Sicht von 1985) als essentiell oder paradigmatisch für sein Werk einstuft.

Besonders hervorzuheben ist ferner der Austausch mit Félix Guattari (1930-1992), Deleuzes langjährigem Freund („I also feel that we were friends before meeting“, 35) und Ko-Autor: „Es gibt nur ein Rhizom zwischen Félix und mir.“ (78; Übers. RG) Die beiden lernten sich im Frühjahr 1969 in der Region Limousin kennen und kurze Zeit später begann der erste Briefwechsel, welcher recht schnell den Beginn der Zusammenarbeit für den Anti-Ödipus (1972) einleitete. Die Briefe geben Einblicke in die erste Phase des Entstehungsprozesses des Anti-Ödipus, allerdings maximal als Ergänzung zu dem bereits 2006 erschienen, hauptsächlich auf Guattaris Beiträge fokussierten Buch The Anti-Œdipus Papers (hg. von Stéphane Nadaud), wo vornehmlich die Textentwicklung des Anti-Ödipus aufbereitet und dargestellt wird. Die in Letters gesammelten Briefe an Guattari (sicher nur ein Bruchteil der tatsächlichen Korrespondenz) zeigen jedoch darüber hinaus den Duktus und Ton der Kommunikation von Deleuze gegenüber Guattari – wie genau er dessen Texte ab ihrer ersten Begegnung 1969 liest und dessen Thesen (zum Beispiel den Maschinenbegriff) aufnimmt bzw. verarbeitet. Auch zwei Briefe im Rahmen der Vorbereitung für Tausend Plateaus sind im Buch enthalten, wozu bislang im Vergleich zum Anti-Ödipus deutlich weniger Quellenmaterial veröffentlicht wurde. Grenzwertig private Aufschlüsse ergeben sich aus einem dieser Briefe außerdem über die Art und Weise, wie bzw. über welches Medium die Auseinandersetzung mit den so genannten „Neuen Philosophen“ um Bernard-Henri Lévy Ende der 1970er Jahre am besten stattzufinden habe (51ff.).

Auch in anderen Briefen wird Guattari natürlich immer wieder Thema, so etwa im wiederholten Insistieren von Deleuze gegenüber Villani (immerhin im Abstand von drei Jahren), in dessen Texten bzw. Buch über Deleuze der Rolle von Guattari für die gemeinsamen Schriften zu seinem Recht zu verhelfen und diesem eine größere Relevanz für ihre gemeinsam erarbeiteten Konzepte einzuräumen (82; 84ff.). Deleuze stößt sich insbesondere an Villanis (verfehlter) Interpretation, Tausend Plateaus beruhe vornehmlich auf seiner Philosophie bzw. sei hauptsächlich von Deleuze verfasst.

Dies ist selbstredend eine der zentralen Fragen, die sich für die Deleuze&Guattari-Forschung in Bezug auf das rhizomatisch verflochtene Tandem stellt und die nach wie vor extensiv untersucht wird. Diesbezüglich ist wiederum eine Stelle aus dem Villani-Fragebogen von Interesse, in dem Deleuze bemerkt, dass die Mikro-Makro-Unterscheidung in Tausend Plateaus mehr von Guattari komme, wobei Deleuze die Unterscheidung zwischen zwei Typen von Mannigfaltigkeiten (die sich von seinem Bergson-Buch bis zu Tausend Plateaus mehr oder weniger durchzieht) dieser vorgelagert sieht und den Begriff der Mannigfaltigkeit [multiplicité] für wichtiger als die Mikrophysik (mehr ein Konzept Foucaults als Guattaris im Gegensatz zur Mikropolitik, Anm.) erachtet (79). Tausend Plateaus zeigt, wie diese verschiedenen Aspekte nebeneinander als Plateaus ko-existieren können, da einerseits die Mikro-Makro-Unterscheidung in diesem Werk ihre höchste Wichtigkeit erlangt (vor allem im 9. und 10. Plateau: „1933 — Mikropolitik und Segmentarität“ sowie „1730 — Intensiv-Werden, Tier-Werden, Unwahrnehmbar-Werden…“) und andererseits Deleuze/Guattari das gesamte Buch als „Theorie der Mannigfaltigkeiten“ (Deleuze/Guattari 1992, II) zusammenfassen.

Daran anschließend passt dazu das (neben den Briefen) meiner Ansicht nach zentrale Element des Buches – ein sehr ausführliches, aber auch aufschlussreiches Interview über den Anti-Ödipus mit Raymond Bellour, welches aber nie publiziert wurde, da es in der eigentlich angedachten Zeitschrift Les Temps modernes auf Intervention Guattaris aus politischen Gründen (wahrscheinlich die maoistische Prägung der Zeitschrift Anfang der 1970er) nicht erschien. Das Interview ist aus mehreren Gründen lesenswert sowie lehrreich:

1. Die Atmosphäre des Interviews schwankt zwischen locker-belustigt und angespannt. Besonders Guattari scheint von Bellours Fragen eher genervt zu sein („your question is lousy“, 200; „he’s going to say something stupid”, 205), was allerdings sowohl Guattari als auch Deleuze viele Erklärungen, Umschreibungen und Beispiele ihrer Thesen entlockt, die insbesondere für das Verständnis von Strömen [flux] oder ihrer Kritik an der familialen, reduktionistischen, ödipalen Psychoanalyse zugunsten eines sozialen und politischen Feldes gewinnbringend sind.

2. Wirft es ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Deleuze und Guattari, ihrer (humorvollen) Kommunikation, gegenseitigen Vorlieben, aber auch Differenzen. So betritt Deleuze nach einem Telefongespräch wieder den Raum, worauf Guattari ihm mitteilt: „I said the opposite of what you said.“ Deleuze antwortet lapidar: “Good. Very good.” (231) Im Speziellen sticht der Fokus auf die politische Dimension hervor, die insbesondere Guattari immer wieder einbringt. Eine oft vorgetragene These, dass Guattari das Politische, wenn er es doch nicht in Deleuze hineintrage, so doch mehr zum Vorschein bringe und einfordere, zeigt sich in diesem Interview paradigmatisch.

3. Die starke bzw. umfassende Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die Ende der 1960er/Anfang der 1970er noch eine viel breitere gesellschaftliche Rolle spielte. Noch vor dem Erscheinen über den Anti-Ödipus richtete Deleuze an Klossowski die Prognose: „either silence or war with psychoanalysts” (61) Auch in besagtem Interview vertreten Deleuze/Guattari ihre zentralen Thesen, wie etwa, dass das Begehren/der Wunsch [désir] nicht auf die Erfüllung eines Mangels zu reduzieren, sondern Produktion sei. Durch die beharrlichen Nachfragen Bellours entstehen bemerkenswerte (aber auch zugängliche) Passagen, beispielsweise die Forderung (sowie auch praktische Anwendung), konsequent in Strömen [flux], Intensitäten und Mannigfaltigkeiten zu denken und nicht einfach von präexistenten Fixpunkten (Subjekt/Objekt) auszugehen (200f.).

Zu guter Letzt geht es mir passenderweise um die Frage nach der Wirkung eines Buchs. Beklagt Deleuze im Interview 1973 noch den akademischen Aspekt des Anti-Ödipus als Ärgernis, wenn auch damit kokettierend (Guattari: „Exactly, it’s Gilles‘ fault.“ (208)), so klingt dies im Brief an Villani 1986, also 13 Jahre später, deutlich anders, man möchte sagen (wieder) deutlich akademischer. Deleuze nennt dem jungen Freund drei Aspekte, die ein existierenswertes Buch ausmachen sollten: In bisherigen Studien zum jeweiligen Thema 1. einen Fehler zu korrigieren (polemische Funktion), 2. etwas Übersehenes zum Vorschein bringen (erfinderische Funktion) sowie 3. einen Begriff [concept] zu schaffen (schöpferische Funktion). Interessanterweise steht dies in einem Spannungsverhältnis dazu, was Deleuze und Guattari im Anschluss an den Anti-Ödipus nicht müde werden zu betonen und auch im in Letters enthaltenen Interview immer wieder ansprechen (198f.; 207f.). So werden sie nicht müde zu betonen, das Buch nicht als Buch zu verstehen, sondern vornehmlich auf die (politischen) Effekte außerhalb und transversale Verbindungslinien abzuzielen sowie Äußerungsgefüge und Gefüge des Begehrens zu schaffen. Funktion des Buches sei dabei, nicht zu überzeugen, sondern abzuholen, wer die Psychoanalyse, aber auch das Subjekt, das Ego satthabe (207). Dass sich diese Hoffnung nicht erfüllen sollte, zeigt sich insbesondere in der Einschätzung im Vorwort zur italienischen Ausgabe von Tausend Plateaus. In einer seltenen Rückschau über die unterschiedliche Rezeption der zwei Bände ihres Opus magnum zu Kapitalismus und Schizophrenie ziehen sie Jahre später (1987) ein gänzlich anderes Fazit  noch im Interview 1973, weshalb ich ausführlicher zitiere: „Tausend Plateaus (1980) war die Fortsetzung des Anti-Ödipus (1972). Aber beide Bücher hatten objektiv ganz verschiedene Schicksale. Das lag sicherlich an den Umständen: die bewegte Zeit des einen, die noch unter dem Einfluß von 68 stand, und die Zeit der seichten flaute, der Gleichgültigkeit, in der das andere erschien. Tausend Plateaus ist von all unseren Büchern am schlechtesten aufgenommen worden. Wenn wir es dennoch besonders mögen, dann nicht so, wie eine Mutter ihr mißratenes Kind liebt. Der Anti-Ödipus war sehr erfolgreich, aber dieser Erfolg wurde von einem noch größeren Scheitern begleitet. Der Anti-Ödipus wollte auf die Verwüstungen Hinweisen, die Ödipus, das ‚Mama-Papa‘, in der Psychoanalyse, in der Psychiatrie und selbst in der Anti-Psychiatrie, in der Literaturkritik und im allgemeinen Bild, das man sich vom Denken macht, anrichtet. Wir haben davon geträumt, Ödipus den Garaus zu machen. Aber diese Aufgabe war zu groß für uns. Die Reaktion auf 68 hat gezeigt, wie stark Ödipus noch in der Familie war und wie er weiterhin in der Psychoanalyse, in der Literatur und überall im Denken sein Regime der kindlichen Weinerlichkeit ausübte. So blieb Ödipus für uns eine schwere Belastung. Tausend Plateaus hat uns dagegen, zumindest uns, trotz seines scheinbaren Mißerfolgs, einen Schritt weitergebracht und uns unbekannte und von Ödipus unberührte Gebiete entdecken lassen, die der Anti-Ödipus nur von ferne sehen konnte, ohne in sie vorzudringen.“ (Deleuze/Guattari 1992, I)

Auch in Letters reflektiert und resümiert Deleuze in einzelnen Passagen über intendierte, aber auch unerwünschte Effekte seiner Bücher. So bemerkt er in einem Brief an Voeffray (1983), dass die Schriften über Proust und Kafka keine Wirkung in seinem Sinne entfalteten (im Gegensatz zu dem Buch über Masoch). Indes waren Konzepte wie „Tier-Werden“ oder „Rhizom“ umgekehrt so erfolgreich, dass sie in einer Weise bar jeder Logik (!) verwendet wurden, die Guattari und ihn abstoße: „I sometimes feel like I’m being roasted by idiotic parasites.“ (91) – eine im Vergleich zum allgemeinen Duktus der Briefe seltene sprachliche Schärfe. Bei aller Kritik am vorliegenden Band könnte die nun vollständig vorliegende Edition der Schriften und Briefe im besten Falle einen Beitrag zum Schutz gegen idiotische Instrumentalisierungen von Deleuze liefern.

Wer darauf hofft, in Letters and Other Texts neue Theoriebausteine oder Verbindungslinien zu finden, welche fundamental andersartige Perspektiven auf und in Deleuzes Philosophie erschließen, muss enttäuscht werden. Das Buch beinhaltet jedoch wertvolle neu publizierte Texte und eröffnet in seiner Gesamtheit neue Ebenen, auf denen die Mannigfaltigkeit an deleuzianischen Strömen [flux] ineinander übergehen und sich verknüpfen lassen.

Bibliographie:

Badiou, Alain. 2003. Deleuze. »Das Geschrei des Seins«. Diaphanes: Zürich/Berlin [Deleuze. »La clameur de l’Etre«, 1997].

Bonta, Mark/ Protevi, Jon. 2006. Deleuze and Geophilosophy. A Guide and Glossary. Edinburgh University Press: Edinburgh [2004].

Deleuze, Gilles. 2020. Letters and Other Texts, hg. von David Lapoujade. Semiotext(e): South Pasadena [Lettres et autres textes, 2015].

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix. 1977. Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Suhrkamp: Frankfurt am Main [L’Anti-Œdipe, 1972].

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix. 1992. Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Merve Verlag: Berlin [Mille plateaux. Capitalisme et schizophrénie, 1980].

Deleuze, Gilles. 1993. Logik des Sinns. Suhrkamp: Frankfurt am Main [Logique du sens, 1969].

Deleuze, Gilles. 1993. Unterhandlungen 1972-1990. Suhrkamp: Frankfurt am Main [Pourparlers 1972-1990, 1990].

Deleuze, Gilles. 1997. David Hume. Campus Verlag: Frankfurt am Main/New York [Empirisme et Subjectivité. Essai sur la nature humaine selon Hume, 1953].

Deleuze, Gilles. 2003. Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, hg. von David Lapoujade. Frankfurt am Main [L’ile déserte et autres textes. Textes et entretiens 1953-1974, 2002].

Deleuze, Gilles. 2005. Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hg. von David Lapoujade. Frankfurt am Main [Deux régimes de fous et autres textes (1975-1995), 2003].

Guattari, Félix. 2006. The Anti-Œdipus Papers, hg. von Stéphane Nadaud. New York [Écrits pour l‘Anti-Œdipe, 2005].


[1] Seitenzahlen ohne weitere Angabe referieren auf Letters and Other Texts (Deleuze 2020).

[2] Ich verwende in dieser Rezension, wenn vorhanden, die deutschen Übersetzungen, allerdings das jeweilige Ersterscheinungsjahr im Original.

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