Byung-Chul Han: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt

Undinge. Umbrüche der Lebenswelt Book Cover Undinge. Umbrüche der Lebenswelt
Byung-Chul Han
Ullstein Verlag
2021
Paperback $31.95
128

Review by: Teresa Geisler (Technische Universität Berlin)

Ich stelle mir gerne vor, wie das Leben meiner Oma von den Dingen in ihrem Haus zusammengehalten wurde. Sorgfältig ausgewählt nach Schönheit und Dauer waren sie zuverlässige Gefährten für viele Jahrzehnte. Ich erinnere mich daran, wie sorgsam sie mit den Dingen umging, wie hingebungsvoll sie sie pflegte, während sie selbst immer mehr verfiel.

Es ist schwierig, die Bücher von Byung Chul Han zusammenzufassen, denn die besten Zusammenfassungen liefert er immer selbst: „Die terrane Ordnung, die Ordnung der Erde, besteht aus Dingen, die eine dauerhafte Form annehmen und eine stabile Umgebung für das Wohnen bilden.“ (2021: 7) Das ist die reaktionäre Ausgangsthese des Buches und der Satz, mit dem es beginnt. In diesem Text schreibt Han über die Veränderung, die sich gerade vollzieht „vom Zeitalter der Dinge zum Zeitalter der Undinge“ (vgl. 7). Das Sein der Dinge unterscheidet sich Han zufolge fundamental vom Sein der Undinge. Auch nach der industriellen Revolution bliebe die terrane Ordnung bestimmt von Dingen, die handfest und handhabbar waren, während nun in der Digitalisierung Informationen und Daten – Undinge – die Lebenswelt strukturierten: „Wir bewohnen nicht mehr Erde und Himmel, sondern Google Earth und Cloud.“ Ontologie ist nicht egal und die Überlagerung unserer Lebenswelt durch die Dinge, die keine sind, verändert nach Han grundsätzlich unsere Beziehung zur Welt, zum Anderen und zu uns Selbst.

Warum?

In Anlehnung an Arendt, Heidegger und Flusser sind die Dinge für Han Ruhepole, die unser Dasein stabilisieren und Sinn stiften. Sie können uns durch die Zeit begleiten, wenn wir für sie Sorge tragen und die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden. Informationen destabilisierten dagegen durch ihre Flüchtigkeit das Leben, wir können nicht bei ihnen verweilen (vgl. 8). Indem die Dinge mit ihrer Festigkeit uns etwas entgegensetzen, erfahren wir uns selbst und die Widerständigkeit einer anderen Entität, wenn wir mit ihnen hantieren und uns handelnd die Welt erschließen. Die smarten Oberflächen der digitalen Geräte setzen uns nichts mehr entgegen. Sie sind glatt, Handschmeichler, und wir tippen zwar noch, aber hantieren nicht mehr. Freilich, auch Han räumt ein, dass die Digitalisierung emanzipatorische Konsequenzen hat: Sie nimmt uns Arbeit ab und erspart uns viel Mühsal. Sie stellt uns eine spielerische Lebensform in Aussicht: „Der an den Dingen uninteressierte Mensch der Zukunft ist kein Arbeiter (Homo faber), sondern ein Spieler (Homo ludens).“ (16)

Wäre das nicht schön?

Der Mensch als Spieler ist für Han kein utopisches Bild der Befreiung, sondern das konsumistische Subjekt der Nachgeschichte. Der Spieler wähle nur noch, er handle nicht mehr. Damit verabschiede sich der Spieler auch von einer Freiheit im Sinne Arendts, die an die Handlung gebunden ist. Handeln, so verstanden, bricht mit dem Bestehenden und setzt etwas Neues in die Welt. Das Spiel dagegen greift nicht ein in die Wirklichkeit, es ist für Han radikal apolitisch: „Die vollkommende Herrschaft ist jene, in der alle Menschen nur noch spielen. Mit dem Spruch panem et circenses (Brot und Spiele) bezeichnet Juvenal jene römische Gesellschaft, in der kein politisches Handeln mehr möglich ist. Menschen werden ruhig gestellt mit kostenloser Nahrung und spektakulären Spielen. Grundeinkommen und Computerspiele wären die moderne Version von panem et circenses.“ (18)

Im Trend Vom Besitz zum Erlebnis, also mehr erleben als besitzen zu wollen, sieht Han folglich nichts Emanzipatorisches. Im Gegenteil. Er konstatiert, dass das Erlebnis als Konsum von Informationen heute derselben Logik folgt, wie vorher die Ökonomie der Dinge. Der Informationskapitalismus sei vielmehr eine verschärfte Form des industriellen Kapitalismus, insofern er auch das Immaterielle zur Ware macht, menschliche Beziehungen kommerzialisiert und zwischen Facebook und Tinder, Airbnb und Storytelling das Leben selbst warenförmig wird. Das „Ge-stell“ dazu ist das Smartphone, auf dessen Touchscreen alles „handzahm und gefällig“ (29) wird: „Das ständige Herumtippen und -wischen auf dem Smartphone ist eine fast liturgische Geste, die sich massiv auf das Verhältnis zur Welt auswirkt. Informationen, die mich nicht interessieren, werden schnell weggewischt. Inhalte hingegen, die mir gefallen, werden mit Fingern herangezoomt. Ich habe die Welt ganz im Griff. Die Welt hat sich ganz nach mir zu richten. […] Der herumtippende Zeigefinger macht alles konsumierbar.“ (26f.) Für Han ist das Smartphone die Devotionalie des Neoliberalismus. Beide sind smart – sie herrschen nicht durch Unterdrückung, sondern durch Abhängigkeit. „Das unterworfene Subjekt ist sich nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Es wähnt sich in Freiheit. Der Kapitalismus vollendet sich im Kapitalismus des Gefällt-mir. Aufgrund seiner Permissivität braucht er keinen Widerstand, keine Revolution zu befürchten.“ (33) Auch in der Fotografie zeige sich der Einfluss der Undinge. Das Porträt, das als Sujet die frühe Fotografie prägt, dominiert als Selfie die digitale Sphäre: „Im Gegensatz zum analogen Porträt belädt sich das Selfie bis zum Platzen mit Ausstellungswert.“ Digitale Plattformen stellen es aus, jenseits der digitalen Kommunikation ist das Selfie dagegen wertlos. Es ist kein Medium der Erinnerung wie das Porträt, es avanciert nicht zum Herzensding wie die Fotografie eines geliebten Menschen. Wir bewahren es nicht auf und machen auch keine Abzüge davon. „Das Selfie ist kein Ding, sondern eine Information, ein Unding.“ (41) Apps wie BeReal entsprechen daher perfekt der Logik des Selfies als Information, das kaum mehr etwas mit der analogen Fotografie als Ding zu tun hat: Wenn die App eine Benachrichtigung schickt, muss innerhalb von zwei Minuten ein Bild aufgenommen werden, um „Authentizität“ als Information zu garantieren. 14 Stunden lang bleibt ein gepostetes Bild online, danach wird es gelöscht. Niemand will beim Selfie verweilen. Die Bilder haben einen rein informationellen Wert, der nach kurzer Zeit verfällt. So flach wie das Selfie ist für Han auch das „Denken“ der Künstlichen Intelligenz. „Informationen und Daten besitzen keine Tiefe. Das menschliche Denken ist mehr als Rechnen und Problemlösung. Es erhellt und lichtet die Welt. Es bringt eine ganz andere Welt hervor.“ (51) Künstliche Intelligenz arbeite nur mit Informationen, die ihr vorgegeben werden, sie begreife nicht. Die größte Gefahr, die von künstlicher Intelligenz ausgeht, ist demnach, dass das menschliche Denken sich ihr angleicht und selbst maschinell wird.

Die Idee, dass der Mensch in der Technokratie seine Menschlichkeit verliert, weil die Maschine zum Ideal wird und er sich ihr angleicht, ist nicht neu.

Auch andere Motive von Hans Kritik wie die Akteurschaft der Maschinen, die Bildersucht der Menschen, die zunehmende Vereinzelung und Warenförmigkeit des Daseins, das Verschwinden von Eigentum in der Konsumgesellschaft und die Scheinfreiheit im Kapitalismus sind schon von anderen vorgebracht worden ­– besonders ausführlich von Günther Anders, den Han seltsamerweise nicht zitiert­, in seinen Arbeiten über die Antiquiertheit des Menschen. Außerdem könnte man natürlich so manches einwenden gegen Hans Kritik, die sich so flüssig liest, wie sie dogmatisch ist. Man könnte kritisieren, dass der Tastsinn nicht nur „entmystifiziert, entauratisiert und profanisiert“ (26), sondern auch die Ebene ist, über die wir am frühesten Verbundenheit erfahren. Man könnte argumentieren, dass menschliche Beziehungen nicht erst im Zeitalter der Undinge kommerzialisiert werden und es nicht nur Airbnb gibt, sondern auch Couchsurfing, das der Gastfreundschaft neue Formen erschließt (vgl. Rebhandl 2021). Man könnte einwenden, dass Sammler empirisch durchaus nicht immer utopische Figuren sind, „Retter der Dinge“ (22), zu denen Han sie mit Benjamin machen möchte, sondern oft von einem Hunger verzehrt werden, der sie zutiefst unglücklich macht (vgl. Groebner 2023). Man könnte fragen, warum wir die Dinge retten sollen, wenn wir uns selbst retten können.

Das könnte man tun.

Aber vielleicht würde man damit dem Wesen des Buches nicht gerecht, wie einem Gedicht, wenn man es widerlegte. Denn Hans Buch ist keine systematische Technikkritik, auch wenn es Motive von ihr übernimmt und weiterführt. Es legt keine Argumentation vor, die wissenschaftlichen Kriterien genügen will. Es induziert Einsichten, in dem leichten Ton einer philosophischen Poesie. Destillate eines Denklebens, die uns verborgen bleiben. Es verführt uns.

Hans Buch ist eine Ode auf das Ding.

Ein Abgesang. Auf seine Festigkeit, die uns Halt geben kann. Auf seine Andersartigkeit, die ein Gegenüber ist. Auf seinen Zauber. Das Ding verstärkt das Sein, es verankert uns in der Zeit – auch das technische Ding tut das. Han erzählt die romantische Geschichte seiner Begegnung mit einer Jukebox, die er mit nach Hause nimmt und deren Zauber er erliegt: „Ich verliebte mich sofort in diese türkisfarbene Jukebox mit einer großen Panoramascheibe und war ganz entschlossen, sie zu besitzen. Nachts ging ich des Öfteren in das Musikzimmer und lauschte der Jukebox in der Dunkelheit. Die vielfarbene Lichtdiffusion auf dem Lautsprechergrill kommt erst in der Dunkelheit voll zur Geltung. Sie verleiht der Jukebox etwas Erotisches. Die Jukebox erhellt das Dunkel mit bunten Farblichtern und erzeugt einen Dingzauber, dem ich mich ergab.“ (102f.) Technik ist für Han nicht das Problem. Im Gegenteil. „Die Technik hat eine magische Seite“ (110), die er den digitalen Dingen abspricht: „Die Jukebox ist ein Automat. Sie reiht sich in die lange Tradition der Musikautomaten ein. Romantiker waren von Automaten fasziniert. Eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann heißt ,Die Automate‘. Der Protagonist ist eine mechanische Puppe, ein orakelnder Türke. Auf Fragen erteilt er Antworten, ,die jedesmal mit tiefem Blick in die Individualität des Fragenden bald trocken, bald ziemlich grob spaßhaft, und dann wieder voll Geist und Scharfsinn und wunderbarer Weise bis zum Schmerzhaften treffend waren‘. ,Alexa‘ von Amazon ist kein Automat, sondern ein Infomat. Ihm fehlt jeder Dingzauber. Es ist durchaus möglich, dass Künstliche Intelligenz ihm bald auch das Orakeln beibringt, allerdings als algorithmische Berechnung. Dieser fehlt aber jede Magie. Wo alles berechenbar ist, verschwindet das Glück.“ (110) Auch wenn Zeremonienmeister wie Apple den Release neuer Geräte wie religiöse Verkündigungen inszenieren und die Werbung für das immer neue IPhone durchaus sakralen Charakter hat, auch wenn wir unser Smartphone öfter berühren, als jedes andere (Un)Ding, wird es kein Herzensding. Wir ersetzen es, ohne etwas zu vermissen. Zum Seligkeitsding, wie der Hut, den Madita von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommt oder Hans Jukebox, werden sie nicht.

Na und?

Aus dem Sein folgt kein Sollen. Nur weil es einmal eine Ordnung der Dinge gab, die eine stabile Umgebung für das Wohnen bildeten, heißt das nicht, dass es sie immer geben sollte. Vermutlich hat Han recht und die Veränderung in unserer Lebenswelt, wird auch unser Sein verändern. Vielleicht wird Wohnen in Zukunft weniger wichtig. Vielleicht verliert auch Stabilität an Bedeutung. Vielleicht spielen wir mehr und es entwickelt sich eine neue Ästhetik der Flüchtigkeit. Vielleicht wird Flexibilität wichtiger als Verweilen. Und Likes wichtiger als Freundschaften. Vielleicht führt das zu mehr Fragilität und Unglück.

Vielleicht aber auch nicht.

Ich hatte einmal die Gelegenheit, mit Byung Chul Han etwas ausführlicher nach einer Lesung zu sprechen und ich glaube, dass Hans Beschwörungen weniger eine Teleologie zugrunde liegt oder eine Anthropologie, die den Menschen philosophisch auf eine bestimmte Ordnung oder Art zu Sein festschreiben möchte, sondern ein Schmerz. Er schreibt: „Die digitale Entmaterialisierung der Welt ist schmerzhaft für den Liebhaber der Dinge.“ (111) Hans Bücher über Rituale, Eros, Untätigkeit, Gartenarbeit, Infokratie oder Narration scheinen mir nicht sich wiederholende Bausteine einer Systemphilosophie zu sein, sondern, wie er sagte, Variationen auf ein Thema – vielleicht um den Schmerz zu verstehen. „Ich will mir meinen Mund wieder aneignen, der plappert“, sagte er, und: „Meine Bücher werden immer dünner, irgendwann lösen sie sich ganz auf und schweben durch die Luft. Dann müssen Sie sie nur noch einatmen.“

Noch sind seine Bücher Dinge. Das ist schön.

Literatur

Rebhandl, B. (2021). Byung Chul Hans “Undinge”: Die Umwege des Denkens. Der Standart, 22. Mai: https://www.derstandard.de/story/2000126824055/byung-chul-hans-undinge-die-umwege-des-denkens (zuletzt aufgerufen am 25. Mai 2023)

Groebner, V. (2023). Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen. Konstanz University Press.

Jens Bonnemann, Paul Helfritzsch, Thomas Zingelmann (Hg.): 1968. Soziale Bewegungen, geistige WegbereiterInnen

1968. Soziale Bewegungen, geistige WegbereiterInnen Book Cover 1968. Soziale Bewegungen, geistige WegbereiterInnen
Jens Bonnemann, Paul Helfritzsch, Thomas Zingelmann (Hg.)
zu Klampen Verlag
2019
Paperback 28,00 €
268

Reviewed by: Matthias Warkus

»1968«, die Studentenbewegung, die Jugendrevolte, wie auch immer man das Phänomen genau nennen mag, ist etwas, wozu es insbesondere aus der Außensicht des politisch interessierten Laien, wie der Verfasser dieser Rezension einer ist, zwei konfligierende Leiterzählungen gibt. Die eine könnte man die orthodoxe oder revolutionäre nennen. Ihr zufolge war »1968« tatsächlich ein Epochenbruch, ein – im Guten oder im Schlechten – grundstürzendes Ereignis, der Beginn unzähliger Kausalketten, die erheblichen Anteil an der Hervorbringung der Welt, in der wir heute leben, hatten. Die andere Erzählung könnte man, um einen Ausdruck von Jacques Rancière auszuborgen, die »furetistische« nennen.[1] Hält man sich an sie, dann war 1968 weniger ein Anfang als ein Ende: der Kulminationspunkt und die Sichtbarwerdung einer bereits seit Jahren im Schwange befindlichen Transformation der westlichen Industriegesellschaften.

Im Zuge der Rechtsbewegung zahlreicher westlicher Demokratien in den letzten Jahren (oder doch zumindest der Aktivierung und Sichtbarwerdung ihrer latenten rechten Kräfte) liegt auch die Frage erneut auf dem Tisch, inwieweit die heutigen Verhältnisse ein Produkt von »1968« sind, was auch gleichzeitig die Frage bedeutet, was anders sein könnte, hätte »1968« größere oder geringere Auswirkungen gehabt. Nicht die schlechteste Lektüre dazu ist der Sammelband 1968. Soziale Bewegungen, geistige WegbereiterInnen, herausgegeben von Jens Bonnemann, Paul Helfritzsch und Thomas Zingelmann (Springe: zu Klampen! 2019, 270 S.).

Schon die Einleitung der Herausgeber führt auf hervorragende und kompakt Weise zu dem Problem der Einordnung des Phänomens »1968« heran (und diskutiert dabei mit hoher Aktualität die Bezüge zum »Rechtsruck« der letzten Jahre, 7–10). Die folgenden Beiträge gehen dieses Phänomen in schlaglichtartigen Einzelbetrachtungen multidimensional und ohne Anspruch auf eine »Entschlüsselung« oder klare Beantwortung der eingangs benannten Fragen an, wobei die Herausgeber (völlig zu Recht) eingangs betonen, dass »1968« Wurzeln hatte, die bis weit in die 50er zurückgehen (16).

Das theoretische Atomgewicht der Beiträge nimmt von vorne nach hinten weitgehend stetig zu. Den Auftakt machen Zeitdarstellungen: Sabine Pamperrien gibt in ihrem Beitrag »Szenen des Jahres 1967«, der laut Anmerkung auf einer Lesung aus ihrem Buch 1967. Das Jahr der zwei Sommer basiert, einen guten Überblick über die Ausgangslage in der Bundesrepublik und international. Sie arbeitet dabei überraschende Parallelen zur Gegenwart heraus. Wolfgang Kraushaar zeichnet anschließend die nach seiner These maßgeblich durch die Situationisten geprägte Entwicklung der in Deutschland führenden Akteure um Rudi Dutschke nach.

Der Beitrag von Hannah Chodura und Paul Helfritzsch nimmt sich für seine Kürze etwas viel vor, indem er anhand von Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels und Goyas berühmtem Alptraum-Capricho eine Neuausdeutung des Traums als Metapher für die kapitalistische Gesellschaft versucht. Deutlich »süffiger« liest sich der Aufsatz von Christian Dries, der in seinem Aufsatz einen hilfreichen Überblick über verschiedene Parameter des politischen Engagements von Günther Anders vor und um 1968 gibt.

Michael Jenewein und Jörg Müller Hipper beschäftigen sich in ihrem Beitrag am Beispiel der Rede Michael Köhlmeiers am 5.5.2018 mit den sartreschen Begriffen von engagierter Literatur und von Literatur überhaupt. Werner Jung diskutiert knapp, aber informativ die Lukács-Rezeption in der Studentenbewegung vor und um 1968, wozu Lukács’ Positionen zum Realsozialismus, aber auch seine Wirkung in die Inhalte von Lehre und Forschung (insbesondere in der Germanistik) gehören. Sein melancholisches Fazit ist allerdings, dass eine tatsächliche produktive und das Gesamtwerk nicht verzerrende Rezeption nie stattgefunden habe.

Gerhard Schweppenhäusers Beitrag über »Marcuse und die Metaphysik« liefert über die Erwartung des Titels hinaus eine kompakt und kurzweilig geschriebene Zusammenschau der frühen kritischen Theorie insgesamt und ihres Verhältnisses zur Metaphysik im Speziellen, die gegen Ende in eine Parallelsetzung von Marcuses und der heutigen Zeit einmündet. Diese geht mit einer in der kurzen Form arg thetisch und formelhaft wirkenden Programmatik für eine Erneuerung der kritischen Theorie einher, wie man sie schon öfters gesehen hat. Der Verfasser dieser Rezension ist in der »Szene« der gegenwärtigen kritischen Theorie ein informierter Außenseiter und weiß nicht so recht, was er von den immer neuen Aktualisierungsforderungen zu halten hat. Manche Punkte Schweppenhäusers erscheinen empirisch fragwürdig, dort, wo zum Beispiel die Rede davon ist, Phantasie konzentriere sich heute »auf das Ausmalen ›technischer Utopien‹«; während zu Marcuses Zeit und noch bis weit in die 1970er, wenn nicht 80er technische Utopien mit fliegenden Autos, Kuppelstädten, Raumkolonien, Abschaffung von Krankheit und Leid seriös präsentiert wurden,[2] hat dies heute eigentlich aufgehört. Die technischen Utopien unserer Zeit, soweit man sich überhaupt noch traut, welche zu äußern, sind sozialtechnische Utopien von »Connectivity« und »Digitalisierung«. Diese kritisiert Schweppenhäuser am Ende seines Beitrages eher schematisch und wenig überzeugend.

Ebenfalls Einführungscharakter hat Alfred Betscharts Beitrag über »Die Vordenker der sexuellen Revolution«, der in großem Bogen von Freud über Reich, Marcuse, Margaret Mead und Kinsey, Gide und Genet, Kerouac und Ginsberg die Wurzeln der sexuellen Befreiung der 60er skizziert, vor allem aber dichte Belege dafür liefert, dass der Einfluss von Sartre und Beauvoir auf diese kulturelle Bewegung nicht zu unterschätzen war. Der auch sprachlich gelungene Aufsatz schreckt vor zielsicheren Spitzen nicht zurück (wenn etwa mokant und eher nebenbei die »in der Frankfurter Schule nicht unübliche[] Umwandlung bildungsbürgerlicher Ideale in vermeintliche linke Postulate« aufgespießt wird, 154f.), lehnt sich aber hier und da etwas aus dem Fenster (es wird etwa angedeutet, Literatur habe nur noch bis in die 1970er eine »außerordentliche Reichweite in der Gesellschaft gehabt, 157, oder »die Ephebophilie« sei »bis in die 1980er Jahre die dominante Form von Homosexualität« gewesen (158), ohne dass dies belegt wird).

Eine pièce de résistance des Bandes, nicht nur aufgrund des gerade erschienen »neuen Houellebecq« Anéantir, stellt für mich der Aufsatz des Herausgebers Jens Bonnemann dar, der sich mit eben jenem französischen Bestsellerautor und seinem Verhältnis zum Erbe der sexuellen Befreiung beschäftigt. Er zeigt, deutlich detaillierter als Betschart zuvor, die Bedeutung von Wilhelm Reich für »die 68er« auf und arbeitet vor allem genau heraus, dass das der freudomarxistischen Kulturtheorie Marcuses immanente Konzept einer Befreiung des Eros nichts mit der zur wirtschaftlichen Deregulierung homologen Befreiung des Sexus bzw. des »Sexual Marketplace«[3] bei Houellebecq zu tun hat.

Jörg Müller Hipper führt in seinem Beitrag mit und gegen Helmuth Plessner den Nachweis, »dass soziale Konzepte der maximalen Nähe und Offenheit«, sprich der Gemeinschaftlichkeit im Gegensatz zur Gesellschaftlichkeit, entgegen der Intuition zahlreicher »68er« keine gangbare Grundlage für neue, bessere Formen menschlichen Zusammenlebens darstellen. Im Gegenteil müssten solche Formen schon aus rein anthropologischen Gründen auf einer Gesellschaftlichkeit von Distanz und Takt, »die Möglichkeit, unbehelligt zu bleiben, nicht mitmachen zu müssen« (205) aufbauen.

Herausgeber Thomas Zingelmann nimmt im Anschluss die beliebte Vorstellung auseinander, die verschiedenen Gegenkulturen, die heute mit der Zeit von »1968« assoziiert werden, seien miteinander verflochten und irgendwie eine Einheit gewesen. Er unterscheidet die verschiedenen Unterströme in kollektivistische Protestbewegungen und individualistische Gegenkulturen (und bleibt damit im Groben in der Spur von Müller Hipper zuvor). So liefert er eine knappe, aber informative historische Beschreibung und Einordnung von Beat Generation und Hippies als Vertreter des unpolitischen Gegenkulturaspekts.

Der dritte Herausgeber, Paul Helfritzsch, konzipiert in seinem Beitrag, der nicht mehr unmittelbar kulturhistorisch ist, im Ausgang von Jean-Paul Sartre und Frantz Fanon die Rolle des Intellektuellen als Instanz der performativen Benennung von Unterdrückungsverhältnissen auf Grundlage von Theoriewissen. Auf dem Intellektuellen liegt nach Helfritzsch eine »ontologische Verantwortung«, also eine Verantwortung für das Verfasstsein der Welt in durch diese performativen Benennungen erst etablierten Strukturen von praktischen Begriffen.

Der Band schließt mit einer geschichtsphilosophischen Betrachtung von Peggy Breitenstein, die sich implizit auch gegen eine Reihe der versammelten anderen Beiträge stellt, indem sie mit einem benjaminschen Geschichtsverständnis den Wert von Versuchen der Geschichtsschreibung, die Fragen wie »Was war…?« und »Was bleibt von…?« stellen und sie von berufenen Zeitzeugen (»Siegern«) deuten lassen (245), allgemein in Frage stellt. An verschiedenen Belegen (Erinnerungen der Malerin Sarah Haffner, die Thesen des Westberliner Aktionsrats zur Befreiung der Frauen sowie Kommentare und Reaktionen darauf wie das berühmte »Penisflugblatt«) entlang zeigt sie die der Studentenbewegung als Lebensstil und als politische Bewegung entgegen ihrem revolutionären Anspruch innewohnenden patriarchalischen Strukturen und Selbstwidersprüche auf. Ihre Bilanz bleibt eine melancholische: dass die »selbstreflexive und selbstkritische Praxis« (259), die jede Emanzipation mit Marx sein müsse und die in den weniger theoriegesättigten feministischen Seitenbewegungen von »1968« noch eher zu finden gewesen sei, bis auf Weiteres höchstens Dialogräume und solidarischen Rückzug bedeuten kann, da das Erbe der emanzipatorischen Diskurse bis heute zumindest im akademischen Raum vor allem in Form von »Debattenwettstreit und Konkurrenz«[4] (262) stattfinde. Breitensteins Aufsatz hat aufgrund seiner inhaltlichen Spannweite und stilistischen Brillanz die prominente Position am Schluss, sozusagen als »inoffizielles Fazit«, des Bandes mehr als verdient.

Insgesamt kann der Band, auch wenn nicht alle Beiträge gleich interessant sind und man sich mancherorts einige Belege mehr gewünscht hätte, trotz (oder gerade wegen) seiner Entstehung als Tagungsband für nicht ins Thema Eingelesene als gute Heranführung an das Phänomen 1968 dienen und auch Kundigeren die eine oder andere neue Perspektive vermitteln. Ein Wermutstropfen bleibt die leider nicht geringe Zahl von nicht nur Tipp-, sondern auch Grammatik- und Trennfehlern, über die man in der Lektüre immer wieder stolpert. Die Frage, ob »1968« nun eher Ursache oder eher Wirkung war, löst sich beim Studium des Bandes jedenfalls nach und nach zusammen mit jeder scheinbar kompakten Substanz des Phänomens auf. »1968« erweist sich als Sammelbegriff für eine heterogene, allenfalls familienähnliche Vielfalt von zeitlich grob koinzidierenden Entwicklungen, deren Zusammenordnung unter einer leitenden Erzählung selbst vielleicht am ehesten so etwas ist wie eine popkulturelle Retrofiktion.


[1] Vgl. Jacques Rancière, interviewt von Julia Christ und Bertrand Ogilvie: »Republikanismus ist heute ein Rassismus für Intellektuelle«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 65.4 (2017), 727–761, hier 731.

[2] Drastisch vor Augen führt dies ein Blick z.B. in Ulrich Schippke, Die 7 Weltwunder von morgen, Gütersloh 1972, oder ders., Zukunft, Gütersloh 1974.

[3] Dieser Ausdruck ist in der Szene der militanten modernen Frauenfeinde (»MRAs«, »Incels«) in den sozialen Medien, die u.a. für ihre Unterstützung von Donald Trump und die Anstiftung mehrerer Massenmorde berüchtigt sind, der geläufige. Houellebecq kann, wenn nicht als Stifter, so doch mindestens als geistiger Vorläufer dieses Denkens gesehen werden.

[4] Der Verf. dankt Katharina Herrmann, München, dafür, durch sie schon vor längerer Zeit auf Karl Helds berühmte Sentenz »Ihr wollt ja lieber dichten« beim konkret-Kongress 1993 hingewiesen worden zu sein.

Günther Anders: Schriften zu Kunst und Film, C.H.Beck, 2020

Schriften zu Kunst und Film Book Cover Schriften zu Kunst und Film
Günther Anders. Herausgegeben von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz.
C.H.Beck
2020
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Peter Schmitt: Medienkritik zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie, Wilhelm Fink, 2020

Medienkritik zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie: Zur Aktualität von Günther Anders und Theodor W. Adorno Book Cover Medienkritik zwischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie: Zur Aktualität von Günther Anders und Theodor W. Adorno
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Günther Anders: Phénoménologie de l’écoute, Éditions Philharmonie de Paris, 2020

Phénoménologie de l'écoute Book Cover Phénoménologie de l'écoute
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Éditions Philharmonie de Paris
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Édouard Jolly: Étranger au monde: Essai sur la première philosophie de Günther Anders, Classiques Garnier, 2019

Étranger au monde: Essai sur la première philosophie de Günther Anders Book Cover Étranger au monde: Essai sur la première philosophie de Günther Anders
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Classiques Garnier
2019
Paperback 36,00 €
349

Guenther Anders: Die Weltfremdheit des Menschen: Schriften zur philosophischen Anthropologie, C.H.Beck, 2018

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C.H.Beck
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