Christian Sternad
https://doi.org/10.19079/pr.2017.7.ste
Eugen Fink Gesamtausgabe, Band 5/2
Verlag Karl Alber
2016
Hardcover 99,99 €
720
Reviewed by: Christian Sternad (Husserl Archives, KU Leuven)
Eugen Fink ist eine der mit Abstand wichtigsten Figuren in der phänomenologischen Bewegung. Als einzigartiger Vermittler der philosophischen Entwürfe seiner phänomenologischen Lehrer Husserl und Heidegger, jedoch aber auch als Vermittler zwischen der transzendentalen Phänomenologie Husserls und der ontologisch-existenzialen phänomenologischen Philosophie Heideggers, hat er den zukünftigen Weg der Phänomenologie im 20. Jahrhundert entscheidend mitbestimmt. Während seine Philosophie vor dem Zweiten Weltkrieg größtenteils noch sehr deutlich in der theoretischen Gefolgschaft Husserls verbleibt, erweist sich Husserls Tod 1938 und das katastrophale Ereignis des Weltkrieges auch in Finks philosophischem Weg als entscheidender und wegweisender Einschnitt. Sein lebenslanger Freund und philosophischer Gefährte Jan Patočka hat diese entscheidende Veränderung in Finks Denken in einem Brief an Robert Campbell vom 30. September 1947 in prägnanter Weise dargestellt; Patočka schreibt dort:
„Er hat sich weit von Husserl entfernt in der Heideggerschen Richtung. Aber er versucht Neues, indem er eine neue Interpretation von Kant, Nietzsche und Hegel vornimmt. Er hat mir daraus Stücke vorgelesen, die, wie mir scheint, die höchste Aufmerksamkeit verdienen. Er ist im Begriff, ein großes Werk über die ‚Ontologische Erfahrung‘ vorzubereiten, das im Aufriß schon existiert und von dem ich viel erwarte.“[i]
Der zweite Teilband von Sein und Endlichkeit versammelt Texte Eugen Finks, welche größtenteils aus dieser für Fink philosophisch so entscheidenden Zeit stammen. Wie der Herausgeber dieses Bandes, Riccardo Lazzari, in seinem vorzüglichen Nachwort erwähnt, können Finks „Überlegung[en] in den hier publizierten Vorlesungen als die Suche eines neuen Weges gedeutet werden“.[ii] Diese Suche nach einem neuen Weg erfolgt jedoch keineswegs geradlinig und führt auf den ersten Blick in sehr unterschiedliche Richtungen: Enthusiasmus, Freiheit, Endlichkeit, Welt, Zeit, etc. Was diese disparat erscheinenden Texte und Themen jedoch gleich einem unsichtbaren Faden zusammenhält, ist Finks sich in statu nascendi befindende Fragestellung nach dem Weltbezug des Menschen und jener nach der Welt überhaupt.
Die Frage nach der Welt ist bei Fink gerade jene philosophische Bewegung, in welcher er die Gedanken Husserls und Heideggers aufnimmt, sie jedoch zugleich in eigener schöpferischer Weise weiterführt. Dieser Ur-topos der Phänomenologie erfährt bei Fink eine bedeutende Neuinterpretation, welche hauptsächlich durch zwei Unzulänglichkeiten[iii] angestoßen wird:
- Die Welt hat bei Husserl zwar einen fundamentalen theoretischen Platz bezogen, sie bildet jedoch aufgrund ihres Horizontcharakters stets nur den (wenngleich auch allererst ermöglichenden) Hintergrund der Phänomene. Überdies scheint sich die Welt damit auf das Subjekt zu reduzieren, für welches die Welt als Horizont aller Erscheinungen fungiert. Fink möchte die Welt jedoch aus dieser Beschränkung auf das Subjekt und der damit verbundenen Horizontstruktur herauslösen.
- Bei Heidegger erfährt die Welt bzw. das In-der-Welt-sein bekanntlich einen existenzialen Zug, welcher jedoch umgekehrt zu dem Problem führt, dass auch hier die Welt lediglich in einer existenzialen Struktur zur Geltung kommt. Das Ganze der Welt, in welche der Mensch schon vor jeder existenzialen Struktur eingelassen ist, kann dabei jedoch nicht vollends zur Geltung kommen. Das Ganze der existenzialen Welt entspricht insofern nicht dem Ganzen der Welt als solcher, vor welche sich der Mensch gestellt sieht.
Diese Unterschiede möchten als Feinheiten der Interpretation erscheinen, sie sind jedoch letztlich entscheidend für den philosophischen Weg, welchen Fink über Husserl und Heidegger hinaus einschlägt und welcher am besten als eine Verwindung von einer phänomenologisch verstandenen Anthropologie und Kosmologie beschrieben werden kann. Bei Fink nimmt die Welt jenen Doppelcharakter ein, in welchem der Mensch auf die ihm so nah stehende Welt vor das ihm so fernliegende Ganze der Welt gestellt ist. Während im ersten Fall ein existenzieller Weltbegriff angezeigt ist, wird im zweiten Fall ein kosmischer Weltbegriff in den Blick genommen – ersterer bringt eine Welt im Menschen zum Ausdruck, der zweite Begriff der Welt zeigt einen Menschen in der Welt, welche Fink gelegentlich auch als „Allheit“ bezeichnet und welche er außerhalb der Verfügungsgewalt des Menschen verortet. Dies tritt in den Vorbetrachtungen zur Welt-Frage in der Vorlesung Welt und Endlichkeit[iv] (1949), die meines Erachtens das Herzstück dieses Bandes darstellt, in aller Deutlichkeit in Erscheinung. Hier formuliert Fink:
„Wir treffen die Welt nie an als einen Gegenstand unserer Erfahrung, weil sie in ihrer Offenheit überhaupt erst Gegenstände begegnen läßt. Vom Seienden ist jeweils nur ein Ausschnitt überblickbar, nie das Ganze. Dieses hält sich uns immer entzogen, und doch verhalten wir uns ständig zum Ganzen. […] Welt wird immer verstanden als das Ganze, in welches der Verstehende selbst mit hineingehört. Welt ist eine Urbekanntheit, die die menschliche Existenz durchmachtet und erhellt. Sofern wir überhaupt sind, leben und weben wir im Offenen der Welt.“ (199)
Diese Doppelstruktur von existenzialem und kosmologischen Denken ist das Charakteristikum von Finks philosophisch eigenständiger Fragestellung, nämlich „wie der weltoffene, aus dem Weltbezug existierende Mensch im Kosmos ist“.[v] Diese Frage nach der eigenwilligen Doppelstruktur der Welt entfaltet Fink mit jenen ihm so vertrauten Denkern wie Kant, Nietzsche und Heidegger, die im Verlauf seiner denkerischen Laufbahn ständige Gesprächspartner bilden.
Ohne der Lektüre dieses Bandes vorzugreifen, scheinen mir noch zwei Momente interessant zu sein, welche ich nur kurz andeuten möchte:
Zum einen betrifft dies das für den Phänomenologen interessante Wechselspiel zwischen Gegebenheit und Ungegebenheit, zwischen Erscheinung und Entzug, welches sich in der Weltproblematik andeutet . Welt ist das Bekannteste, die „Urbekanntheit“, jedoch auch immer das zugleich Flüchtigste. Sie ist immer da und fungiert als Erscheinungshorizont aller Erscheinungen. Zugleich verschwindet sie in eigenwilliger Weise, wenn sie zum Gegenstand der Überlegungen gemacht wird. Diese Schwierigkeit verstärkt sich, wenn die Welt in kosmologischer Hinsicht verstanden wird. Wie ist das Ganze der Welt zu fassen, wenn man nicht in einen banalen Begriff des ontischen Vorhandenseins aller Dinge abgleiten will? Wie lässt sich ein kosmischer Weltbegriff vorstellen, der die Unabhängigkeit der Welt vom Menschen beschreiben will, zugleich den Weltbegriff jedoch auch nicht in ein pures Vorkommnis außerhalb des menschlichen Bezugs nivellieren möchte? Diese Problematik motiviert die methodologischen Überlegungen in vielen von Finks Werken aus dieser Zeit. Cathrin Nielsen und Hans Rainer Sepp haben diese bedeutende Problematik bei Fink prägnant zusammengefasst:
„Es handelt sich dabei um eine paradoxe Konfrontation von solchem, das gegeben ist (Binnenweltliches) und sich zugleich jeder positiven Gebung verweigert (Welt) – oder um ein Zusammentreffen von solchem, das konkret da ist, das wir selbst sind, mit dem, was sich an der Bruchlinie des Stückhaften der Existenz in negativo noch zeigt, was zeigt, dass das, was ist, nicht alles ist – oder, noch anders und rein formal ausgedrückt, eine Identität, die nur als eine unaufhebbare Differenz fassbar ist.“[vi]
Zum anderen ist da noch die Frage nach der Transzendenz der Endlichkeit der Weltbezüge, welche Fink in verschiedenen Anläufen immer wieder neu und anders thematisiert. Vor allem der Vortrag Vom Wesen des Enthusiasmus[vii] (1947) zu Beginn dieses Bandes widmet sich dem Enthusiasmus als einem Moment der menschlichen Existenz, in welchem diese über sich hinaus gerät. Abseits von Finks konkreten Thesen – Fink interpretiert Philosophie, Kunst und Religion als jene „absoluten Verhältnisse, welche hin zum Wahren, Schönen und Heiligen führen“[viii] –, deutet Fink ein wirkmächtiges Spannungsverhältnis an, welches er selbst folgendermaßen beschreibt: „Im Bezug zum Unendlichen wird das Endliche als solches erfahren“.[ix] In diesem Spannungsverhältnis kann der Bezug zwischen dem Konkreten und jenem alle Konkretion Übersteigende erblickt werden – eine gedankliche Struktur übrigens, welche er mit seinem philosophischen Freund Jan Patočka teilt.[x]
Zuletzt noch ein Wort zum Aufbau dieses zweiten Teilbandes des fünften Bandes der Eugen Fink Gesamtausgabe: Die Haupttexte in diesem Band – Vom Wesen des Enthusiasmus (1947), Vom Wesen der menschlichen Freiheit (1947), Welt und Endlichkeit (1949), Die menschliche Freiheit (1961), Die Exposition des Weltbegriffs bei Giordano Bruno (1972) – werden durch einige interessante ergänzende Texte flankiert – Freiheit und Werk (1961), Über Freiheit (Freiheit wovon…, Freiheit wozu…) (1961), Freiheit und Zeit (1962), Die Wissenschaften und das Weltproblem (1966) – und letztlich durch eine Reihe an Notizen und Disposition, welche als ergänzendes Material betrachtet werden können, abgeschlossen. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass der thematische Spannungsbogen dieses Bandes zwischen Sein und Endlichkeit eindeutig geglückt ist, weil sich darin die Fragen von existenziellem bzw. anthropologischem und kosmologischem Denken auf deutliche Weise verschränken. Die auf den ersten Blick disparaten Texte und Textentwürfe werden durch das hervorragende Nachwort des Herausgebers in einen erhellenden Gesamtkontext gestellt und erleichtern damit dem Leser den Einstieg in diesen voluminösen Band. Vor diesem Hintergrund lässt dieser zweite Teilband Vom Wesen der menschlichen Freiheit mit Vorfreude auf den ersten Teilband von Sein und Endlichkeit vorausblicken, welche dem Publikationsplan zufolge unter anderem weitere wichtige Texte von Fink, wie etwa die Vorlesungen Philosophie des Geistes (1946/47) und Sein und Mensch (1950/51), beinhalten werden.
[i] Eugen Fink, Jan Patočka, Briefe und Dokumente 1933-1977. Hg. Von Michael Neitz und Bernhard Nessler. Freiburg: Verlag Karl Alber 1999, 56.
[ii] 695-696.
[iii] Eine besonders klare Darstellung dieser doppelten Kritikrichtung findet sich in: Cathrin Nielsen & Hans Rainer Sepp, „Welt bei Fink“, in: Cathrin Nielsen, Hans Rainer Sepp (Hg.), Welt denken. Annäherungn an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg: Karl Alber 2011, 9-14.
[iv] Diese Vorlesung war bisher veröffentlicht in Eugen Fink, Welt und Endlichkeit, Würzburg: Königshausen & Neumann 1990. Im vorliegenden Band: 191-402.
[v] Eugen Fink, Spiel als Weltsymbol, (EFGA, Bd. 7), Freiburg: Karl Alber 2010, 69.
[vi] Cathrin Nielsen & Hans Rainer Sepp, „Welt bei Fink“, in: Cathrin Nielsen, Hans Rainer Sepp (Hg.), Welt denken. Annäherungn an die Kosmologie Eugen Finks, Freiburg: Karl Alber 2011, 10.
[vii] 11-25.
[viii] 15.
[ix] 22.
[x] Vgl. hierzu die bemerkenswerte Studie: Filip Karfík, Unendlichwerden durch die Endlichkeit. Eine Lektüre der Philosophie Jan Patočkas. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.