Byung-Chul Han: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt

Teresa Geisler

Undinge. Umbrüche der Lebenswelt Book Cover Undinge. Umbrüche der Lebenswelt
Byung-Chul Han
Ullstein Verlag
2021
Paperback $31.95
128

Review by: Teresa Geisler (Technische Universität Berlin)

Ich stelle mir gerne vor, wie das Leben meiner Oma von den Dingen in ihrem Haus zusammengehalten wurde. Sorgfältig ausgewählt nach Schönheit und Dauer waren sie zuverlässige Gefährten für viele Jahrzehnte. Ich erinnere mich daran, wie sorgsam sie mit den Dingen umging, wie hingebungsvoll sie sie pflegte, während sie selbst immer mehr verfiel.

Es ist schwierig, die Bücher von Byung Chul Han zusammenzufassen, denn die besten Zusammenfassungen liefert er immer selbst: „Die terrane Ordnung, die Ordnung der Erde, besteht aus Dingen, die eine dauerhafte Form annehmen und eine stabile Umgebung für das Wohnen bilden.“ (2021: 7) Das ist die reaktionäre Ausgangsthese des Buches und der Satz, mit dem es beginnt. In diesem Text schreibt Han über die Veränderung, die sich gerade vollzieht „vom Zeitalter der Dinge zum Zeitalter der Undinge“ (vgl. 7). Das Sein der Dinge unterscheidet sich Han zufolge fundamental vom Sein der Undinge. Auch nach der industriellen Revolution bliebe die terrane Ordnung bestimmt von Dingen, die handfest und handhabbar waren, während nun in der Digitalisierung Informationen und Daten – Undinge – die Lebenswelt strukturierten: „Wir bewohnen nicht mehr Erde und Himmel, sondern Google Earth und Cloud.“ Ontologie ist nicht egal und die Überlagerung unserer Lebenswelt durch die Dinge, die keine sind, verändert nach Han grundsätzlich unsere Beziehung zur Welt, zum Anderen und zu uns Selbst.

Warum?

In Anlehnung an Arendt, Heidegger und Flusser sind die Dinge für Han Ruhepole, die unser Dasein stabilisieren und Sinn stiften. Sie können uns durch die Zeit begleiten, wenn wir für sie Sorge tragen und die Vergangenheit mit der Gegenwart verbinden. Informationen destabilisierten dagegen durch ihre Flüchtigkeit das Leben, wir können nicht bei ihnen verweilen (vgl. 8). Indem die Dinge mit ihrer Festigkeit uns etwas entgegensetzen, erfahren wir uns selbst und die Widerständigkeit einer anderen Entität, wenn wir mit ihnen hantieren und uns handelnd die Welt erschließen. Die smarten Oberflächen der digitalen Geräte setzen uns nichts mehr entgegen. Sie sind glatt, Handschmeichler, und wir tippen zwar noch, aber hantieren nicht mehr. Freilich, auch Han räumt ein, dass die Digitalisierung emanzipatorische Konsequenzen hat: Sie nimmt uns Arbeit ab und erspart uns viel Mühsal. Sie stellt uns eine spielerische Lebensform in Aussicht: „Der an den Dingen uninteressierte Mensch der Zukunft ist kein Arbeiter (Homo faber), sondern ein Spieler (Homo ludens).“ (16)

Wäre das nicht schön?

Der Mensch als Spieler ist für Han kein utopisches Bild der Befreiung, sondern das konsumistische Subjekt der Nachgeschichte. Der Spieler wähle nur noch, er handle nicht mehr. Damit verabschiede sich der Spieler auch von einer Freiheit im Sinne Arendts, die an die Handlung gebunden ist. Handeln, so verstanden, bricht mit dem Bestehenden und setzt etwas Neues in die Welt. Das Spiel dagegen greift nicht ein in die Wirklichkeit, es ist für Han radikal apolitisch: „Die vollkommende Herrschaft ist jene, in der alle Menschen nur noch spielen. Mit dem Spruch panem et circenses (Brot und Spiele) bezeichnet Juvenal jene römische Gesellschaft, in der kein politisches Handeln mehr möglich ist. Menschen werden ruhig gestellt mit kostenloser Nahrung und spektakulären Spielen. Grundeinkommen und Computerspiele wären die moderne Version von panem et circenses.“ (18)

Im Trend Vom Besitz zum Erlebnis, also mehr erleben als besitzen zu wollen, sieht Han folglich nichts Emanzipatorisches. Im Gegenteil. Er konstatiert, dass das Erlebnis als Konsum von Informationen heute derselben Logik folgt, wie vorher die Ökonomie der Dinge. Der Informationskapitalismus sei vielmehr eine verschärfte Form des industriellen Kapitalismus, insofern er auch das Immaterielle zur Ware macht, menschliche Beziehungen kommerzialisiert und zwischen Facebook und Tinder, Airbnb und Storytelling das Leben selbst warenförmig wird. Das „Ge-stell“ dazu ist das Smartphone, auf dessen Touchscreen alles „handzahm und gefällig“ (29) wird: „Das ständige Herumtippen und -wischen auf dem Smartphone ist eine fast liturgische Geste, die sich massiv auf das Verhältnis zur Welt auswirkt. Informationen, die mich nicht interessieren, werden schnell weggewischt. Inhalte hingegen, die mir gefallen, werden mit Fingern herangezoomt. Ich habe die Welt ganz im Griff. Die Welt hat sich ganz nach mir zu richten. […] Der herumtippende Zeigefinger macht alles konsumierbar.“ (26f.) Für Han ist das Smartphone die Devotionalie des Neoliberalismus. Beide sind smart – sie herrschen nicht durch Unterdrückung, sondern durch Abhängigkeit. „Das unterworfene Subjekt ist sich nicht einmal seiner Unterworfenheit bewusst. Es wähnt sich in Freiheit. Der Kapitalismus vollendet sich im Kapitalismus des Gefällt-mir. Aufgrund seiner Permissivität braucht er keinen Widerstand, keine Revolution zu befürchten.“ (33) Auch in der Fotografie zeige sich der Einfluss der Undinge. Das Porträt, das als Sujet die frühe Fotografie prägt, dominiert als Selfie die digitale Sphäre: „Im Gegensatz zum analogen Porträt belädt sich das Selfie bis zum Platzen mit Ausstellungswert.“ Digitale Plattformen stellen es aus, jenseits der digitalen Kommunikation ist das Selfie dagegen wertlos. Es ist kein Medium der Erinnerung wie das Porträt, es avanciert nicht zum Herzensding wie die Fotografie eines geliebten Menschen. Wir bewahren es nicht auf und machen auch keine Abzüge davon. „Das Selfie ist kein Ding, sondern eine Information, ein Unding.“ (41) Apps wie BeReal entsprechen daher perfekt der Logik des Selfies als Information, das kaum mehr etwas mit der analogen Fotografie als Ding zu tun hat: Wenn die App eine Benachrichtigung schickt, muss innerhalb von zwei Minuten ein Bild aufgenommen werden, um „Authentizität“ als Information zu garantieren. 14 Stunden lang bleibt ein gepostetes Bild online, danach wird es gelöscht. Niemand will beim Selfie verweilen. Die Bilder haben einen rein informationellen Wert, der nach kurzer Zeit verfällt. So flach wie das Selfie ist für Han auch das „Denken“ der Künstlichen Intelligenz. „Informationen und Daten besitzen keine Tiefe. Das menschliche Denken ist mehr als Rechnen und Problemlösung. Es erhellt und lichtet die Welt. Es bringt eine ganz andere Welt hervor.“ (51) Künstliche Intelligenz arbeite nur mit Informationen, die ihr vorgegeben werden, sie begreife nicht. Die größte Gefahr, die von künstlicher Intelligenz ausgeht, ist demnach, dass das menschliche Denken sich ihr angleicht und selbst maschinell wird.

Die Idee, dass der Mensch in der Technokratie seine Menschlichkeit verliert, weil die Maschine zum Ideal wird und er sich ihr angleicht, ist nicht neu.

Auch andere Motive von Hans Kritik wie die Akteurschaft der Maschinen, die Bildersucht der Menschen, die zunehmende Vereinzelung und Warenförmigkeit des Daseins, das Verschwinden von Eigentum in der Konsumgesellschaft und die Scheinfreiheit im Kapitalismus sind schon von anderen vorgebracht worden ­– besonders ausführlich von Günther Anders, den Han seltsamerweise nicht zitiert­, in seinen Arbeiten über die Antiquiertheit des Menschen. Außerdem könnte man natürlich so manches einwenden gegen Hans Kritik, die sich so flüssig liest, wie sie dogmatisch ist. Man könnte kritisieren, dass der Tastsinn nicht nur „entmystifiziert, entauratisiert und profanisiert“ (26), sondern auch die Ebene ist, über die wir am frühesten Verbundenheit erfahren. Man könnte argumentieren, dass menschliche Beziehungen nicht erst im Zeitalter der Undinge kommerzialisiert werden und es nicht nur Airbnb gibt, sondern auch Couchsurfing, das der Gastfreundschaft neue Formen erschließt (vgl. Rebhandl 2021). Man könnte einwenden, dass Sammler empirisch durchaus nicht immer utopische Figuren sind, „Retter der Dinge“ (22), zu denen Han sie mit Benjamin machen möchte, sondern oft von einem Hunger verzehrt werden, der sie zutiefst unglücklich macht (vgl. Groebner 2023). Man könnte fragen, warum wir die Dinge retten sollen, wenn wir uns selbst retten können.

Das könnte man tun.

Aber vielleicht würde man damit dem Wesen des Buches nicht gerecht, wie einem Gedicht, wenn man es widerlegte. Denn Hans Buch ist keine systematische Technikkritik, auch wenn es Motive von ihr übernimmt und weiterführt. Es legt keine Argumentation vor, die wissenschaftlichen Kriterien genügen will. Es induziert Einsichten, in dem leichten Ton einer philosophischen Poesie. Destillate eines Denklebens, die uns verborgen bleiben. Es verführt uns.

Hans Buch ist eine Ode auf das Ding.

Ein Abgesang. Auf seine Festigkeit, die uns Halt geben kann. Auf seine Andersartigkeit, die ein Gegenüber ist. Auf seinen Zauber. Das Ding verstärkt das Sein, es verankert uns in der Zeit – auch das technische Ding tut das. Han erzählt die romantische Geschichte seiner Begegnung mit einer Jukebox, die er mit nach Hause nimmt und deren Zauber er erliegt: „Ich verliebte mich sofort in diese türkisfarbene Jukebox mit einer großen Panoramascheibe und war ganz entschlossen, sie zu besitzen. Nachts ging ich des Öfteren in das Musikzimmer und lauschte der Jukebox in der Dunkelheit. Die vielfarbene Lichtdiffusion auf dem Lautsprechergrill kommt erst in der Dunkelheit voll zur Geltung. Sie verleiht der Jukebox etwas Erotisches. Die Jukebox erhellt das Dunkel mit bunten Farblichtern und erzeugt einen Dingzauber, dem ich mich ergab.“ (102f.) Technik ist für Han nicht das Problem. Im Gegenteil. „Die Technik hat eine magische Seite“ (110), die er den digitalen Dingen abspricht: „Die Jukebox ist ein Automat. Sie reiht sich in die lange Tradition der Musikautomaten ein. Romantiker waren von Automaten fasziniert. Eine Erzählung von E.T.A. Hoffmann heißt ,Die Automate‘. Der Protagonist ist eine mechanische Puppe, ein orakelnder Türke. Auf Fragen erteilt er Antworten, ,die jedesmal mit tiefem Blick in die Individualität des Fragenden bald trocken, bald ziemlich grob spaßhaft, und dann wieder voll Geist und Scharfsinn und wunderbarer Weise bis zum Schmerzhaften treffend waren‘. ,Alexa‘ von Amazon ist kein Automat, sondern ein Infomat. Ihm fehlt jeder Dingzauber. Es ist durchaus möglich, dass Künstliche Intelligenz ihm bald auch das Orakeln beibringt, allerdings als algorithmische Berechnung. Dieser fehlt aber jede Magie. Wo alles berechenbar ist, verschwindet das Glück.“ (110) Auch wenn Zeremonienmeister wie Apple den Release neuer Geräte wie religiöse Verkündigungen inszenieren und die Werbung für das immer neue IPhone durchaus sakralen Charakter hat, auch wenn wir unser Smartphone öfter berühren, als jedes andere (Un)Ding, wird es kein Herzensding. Wir ersetzen es, ohne etwas zu vermissen. Zum Seligkeitsding, wie der Hut, den Madita von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommt oder Hans Jukebox, werden sie nicht.

Na und?

Aus dem Sein folgt kein Sollen. Nur weil es einmal eine Ordnung der Dinge gab, die eine stabile Umgebung für das Wohnen bildeten, heißt das nicht, dass es sie immer geben sollte. Vermutlich hat Han recht und die Veränderung in unserer Lebenswelt, wird auch unser Sein verändern. Vielleicht wird Wohnen in Zukunft weniger wichtig. Vielleicht verliert auch Stabilität an Bedeutung. Vielleicht spielen wir mehr und es entwickelt sich eine neue Ästhetik der Flüchtigkeit. Vielleicht wird Flexibilität wichtiger als Verweilen. Und Likes wichtiger als Freundschaften. Vielleicht führt das zu mehr Fragilität und Unglück.

Vielleicht aber auch nicht.

Ich hatte einmal die Gelegenheit, mit Byung Chul Han etwas ausführlicher nach einer Lesung zu sprechen und ich glaube, dass Hans Beschwörungen weniger eine Teleologie zugrunde liegt oder eine Anthropologie, die den Menschen philosophisch auf eine bestimmte Ordnung oder Art zu Sein festschreiben möchte, sondern ein Schmerz. Er schreibt: „Die digitale Entmaterialisierung der Welt ist schmerzhaft für den Liebhaber der Dinge.“ (111) Hans Bücher über Rituale, Eros, Untätigkeit, Gartenarbeit, Infokratie oder Narration scheinen mir nicht sich wiederholende Bausteine einer Systemphilosophie zu sein, sondern, wie er sagte, Variationen auf ein Thema – vielleicht um den Schmerz zu verstehen. „Ich will mir meinen Mund wieder aneignen, der plappert“, sagte er, und: „Meine Bücher werden immer dünner, irgendwann lösen sie sich ganz auf und schweben durch die Luft. Dann müssen Sie sie nur noch einatmen.“

Noch sind seine Bücher Dinge. Das ist schön.

Literatur

Rebhandl, B. (2021). Byung Chul Hans “Undinge”: Die Umwege des Denkens. Der Standart, 22. Mai: https://www.derstandard.de/story/2000126824055/byung-chul-hans-undinge-die-umwege-des-denkens (zuletzt aufgerufen am 25. Mai 2023)

Groebner, V. (2023). Aufheben, Wegwerfen. Vom Umgang mit schönen Dingen. Konstanz University Press.

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