Thomas Zingelmann
Wissenschaftliche Beiträge zur Philosophiedidaktik und Bildungsphilosophie
Verlag Barbara Budrich
2021
Paperback
333
Reviewed by: Thomas Zingelmann (Friedrich-Schiller-Universität Jena)
Die 2021 erschienene Arbeit, welche eine leicht veränderte Fassung der Dissertation der Autorin ist, macht eine klare Diagnose: Trotz einer differenzierten Debatte über Leib und Körper verpasste die Phänomenologie in weiten Teilen bisher körperliche Entfremdungserfahrungen zu beschreiben. Besser gesagt: Breil konstatiert, dass die phänomenologischen Diskussionen über Leib und Körper vornehmlich durch die Rezeption Maurice Merleau-Pontys geprägt ist, wobei aber die Schriften Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs Phänomene aufgreifen, die sich mit der Traditionslinie Merleau-Pontys und Bernhard Waldenfels‘ nicht beschreiben lassen. Dem möchte die Autorin Abhilfe verschaffen, indem sie dieser Problematik aus einer existentialistisch-phänomenologischen Perspektive begegnet und sich darum bemüht den Boden für eine Beschreibung körperlicher Entfremdung zu bereiten. Abseits der Beseitigung einer Leerstelle in der Phänomenologie sieht Breil hier eine pragmatische Notwendigkeit: Die Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik haben keine passenden Konzepte für die Erfahrung der Heranwachsenden. Ihnen fehle das adäquate theoretische Instrumentarium, um beispielsweise Pubertäts- oder Gewalterfahrungen der Sache gemäß aufbereiten zu können. Insofern ist auch Breils erklärtes Ziel die existentialistischen Ansätze für Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik fruchtbar zu machen. Ihr Vorhaben ist klar: „Unter Bezug auf Phänomenologien, die den Körper in seiner Materialität thematisieren, wird eine Theorie des unverfügbaren Körpers skizziert, die eine notwendige Ergänzung von phänomenologischer Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik darstellt.“ (S. 163) Ihre Überlegungen werden durch die These getragen, dass körperliche „Unverfügbarkeit […] zentraler Aspekt des Menschseins“ sei. (S. 144)
Das Buch gliedert sich gleichmäßig in zwei Teile: Teil I behandelt „Pathologien des unverfügbaren Körpers“ in Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty, Waldenfels, der phänomenologischen Erziehungswissenschaft und der Philosophiedidaktik. Teil II thematisiert „Unverfügbarkeit als Modus körperlicher Existenz“ in Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, mit deren Hilfe Breil dann einen Ansatz für Lehrkonzepte in Aussicht stellt.
Breils Ausgangsbeobachtung ist, dass „der eigene Körper auffällig“ (S. 7) wird, und zwar in einer Weise, dass die bestehende oder sich verändernde Materialität des Körpers als unverfügbar, im Sinne von unkontrollierbar erfahren wird. Der Körper würde so in „Unabhängigkeit von dem leiblichen Gesamtzusammenhang“ (S. 9) erfahren. Darauf zielt auch die Rede von Entfremdung bei Breil ab, dass der Körper entweder als nicht dem Selbst zugehörig oder zumindest als widerständig erfahren würde. Der Körper, den man hat, wird als fremd und eigensinnig erfahren. Damit ist auch schon eine Dimension ihrer Arbeit angesprochen, die doch einen Mehrgewinn in der Debatte um Entfremdung darstellt. Denn ihr Ansatz ergänzt, wie Breil selbst anspricht, den sonst von der Gesellschaftstheorie dominierten Diskussionsbereich, in welchem der Gehalt der subjektiven Erfahrung von Entfremdung kaum eine Rolle spielt. Breil ist hier ganz deutlich: Ihr geht es um „die historisch unspezifische, individuelle Möglichkeit, den eigenen Körper als widerständiges und rein physisches Gegenüber zu erfahren, dessen Stellung zum Selbst in Frage steht.“ (S. 9) Im Raum steht nicht etwa die Frage, inwieweit polit-ökonomische Umstände, Strukturen und Bedingungen zur Erfahrung spezifischer körperlicher Entfremdung führen. Ihr Buch ist von der Frage geleitet, welches die Merkmale sind, die zu dieser Erfahrung überhaupt notwendigerweise gehören. Anders gesagt – und das ist typisch phänomenologisch: Es geht um die logisch-notwendigen Strukturen dieser Erfahrung, egal wer diese wann und wo macht. Hier stellt sich Breil die entscheidende Aufgabe klassische Begriffsarbeit zu leisten, da sie der Überzeugung ist, dass es überhaupt erst ein „geeignetes Vokabular“ (S. 9) bedürfe. Daran anschließend versucht sie für die Alltäglichkeit und entgegen der Pathologisierung – denn so erklärt sich auch die Überschrift von Teil I – dieser Erfahrung zu argumentieren: Sie ist unter Zuhilfenahme der Hegelschen Dialektik der Überzeugung, dass es der „zeitweisen Entfremdung“ (S. 10) bedarf, um Selbsterkenntnis zu erlangen. Diese These und Rezeption Hegels wird im philosophiedidaktischen Teil weiter ausgeführt: Die notwendige – das heißt hier unumgängliche – Erfahrung der Widerständigkeit des eigenen Körpers (wie etwa in der Pubertät), soll für die Bildung des Individuums zunutze gemacht werden, indem eine intensive reflektierte Auseinandersetzung ermöglicht wird (S. 288).
Breils Buch verfolgt also ein doppeltes Unterfangen: Sie versucht die Frage zu klären, was körperliche Entfremdung ist, indem sie Entfremdung als Erfahrung beschreibt. Ist dies einmal geklärt, soll die Rolle dieser Erfahrung für (Selbst-)Bildungsprozesse herausgestellt werden. Unerlässlich sei es, der Intersubjektivität für diesen Themenkreis eine fundamentale Rolle zuzuschreiben. Breil ist der Überzeugung, dass diese Dimension mit anerkennungstheoretischen Prämissen in Anschluss an Alexandre Kojève und Axel Honneth eingeholt werden könne – allerdings wird sie dies nicht weiter ausführen und lediglich in Aussicht stellen. Denn es verhalte sich so, dass Identität „nur über die Entäußerung und nur im vorgestellten oder realen Angesicht des Anderen erlangt werden kann.“ (S. 12) Insgesamt möchte Breil eine Perspektive auf die Entfremdungserfahrung eröffnen, die erst einmal nicht normativ, sondern rein deskriptiv ist. Wie gesagt: Breil versucht dieses Phänomen ganz nüchtern und unaufgeregt zu betrachten, weil es – zumindest was die Pubertät angeht – eh unumgänglich ist und man sich daher Gedanken machen muss, wie damit umzugehen sei.
Breils Ansatz besteht darin, zuerst zu klären „wie auf Basis dieser leibphänomenologischen Voraussetzungen ein Fremdwerden des Körpers theoretisch erfasst werden kann.“ (S. 14) Hier ist ihr Urteil eindeutig: Die wirkmächtige Traditionslinie von Merleau-Ponty, die sich in ihrer Rekonstruktion unteranderem über Waldenfels, Käte Meyer-Drawe und Wilfried Lippitz zieht, ist nicht dazu imstande diese Phänomene nicht pathologisierend zu beschreiben. Denn das ist Breil wichtig: Ihre Arbeit soll dazu verhelfen „einer Pathologisierung von Entfremdungserfahrungen entgegenzuwirken.“ (S. 296) Es sei wichtig „ein Vokabular aufzuarbeiten, das eine bessere Beschreibung der eigenen körperlichen Existenz ermöglicht.“ (S. 282)
Die Rekonstruktion Merleau-Pontys umspannt im Großen und Ganzen das Gesamtwerk mit besonderem Augenmerk für die Leib-Konzeption in der Phänomenologie der Wahrnehmung und der Theorie des Fleisches in seinem Spätwerk. Ihm hält sie insbesondere folgendes entgegen: „Dieses Hereinbrechen eines Körpers, der sich in seiner Bedeutungslosigkeit aufdrängt, kann mit dem Leibbegriff Merleau-Pontys nicht eingeholt werden.“ (S. 72) Warum dies nicht möglich sei, erklärt sie wie folgt: „Während Leiblichkeit vornehmlich als Grund des innerweltlichen Sinngeschehens thematisiert wird, präsentieren sich Erfahrungen körperlicher Objektivierung nachgerade sinnentleert.“ (S. 72) Es sei nicht nur so, dass er körperliche Entfremdung lediglich nicht thematisiere, Breil versucht darzulegen, dass er dies aufgrund „einer Theorielücke“ nicht könne. (S. 72) Weil dem Leib bei Merleau-Ponty eine bedeutungskonstituierende Dimension zugeschrieben wird, habe man es gleichzeitig mit einer Herabwürdigung des Sinnlosen und Kontingenten zu tun – was dann bei Jean-Paul Sartre positiv hervorgehoben werden wird.
Waldenfels, der wohl kaum wie ein anderer in der deutschen Phänomenologie das Werk Merleau-Pontys vertritt, als aber auch kritisch weiterentwickelt, wird von Breil ebenfalls einer genauen Prüfung unterzogen. Dies ergebe sich aus dem Umstand, dass beide für die phänomenologisch orientierte Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik eine ausschlaggebende Rolle spielen. Waldenfels‘ Werk wird entlang der Theoriebausteine Responsivität, Fremdheit und Ordnung rekonstruiert. Im Gegensatz zu Merleau-Ponty werden Phänomene körperlicher Entfremdung zwar denkbar und auch beschrieben, aber Breil wendet ein, dass die Beschreibungen nicht adäquat, weil pathologisierend seien: „Obwohl mit Waldenfels‘ Konzeptualisierungen die Weichen für eine umfassende Analyse leiblich-menschlicher Verletzlichkeit gestellt sind, verhindert doch bereits die sprachliche Seite der Theoriebildung eine angemessene Erfassung der zugrundeliegenden Erfahrungen.“ (S. 108) Oder anders gesagt: „In Waldenfels‘ Theorie der Responsivität bleibt die Körpererfahrung – obzwar durchaus möglich – ein Fehler im System.“ (S. 110) Hier erläutert Breil auch, was ihr an so einer Einschätzung missfällt: „Eine solche Einschätzung muss vor dem Hintergrund einer Pädagogik der Leiblichkeit, die sich an der Lebenswelt von Schüler*innen orientiert […], fatal erscheinen. Statt einer Stigmatisierung des Körpers muss es vor allem im Hinblick auf physische Veränderungen in der Pubertät eine Möglichkeit geben, körperliche Entfremdung sowie körperliche Bedeutungslosigkeit als mitunter alltägliche Form der Fremdheit zu verstehen.“ (S. 110)
Hieran anschließend versucht sie aufzuzeigen „inwiefern die dargestellten Defizite der phänomenologischen Theorien sich in die phänomenologische Erziehungswissenschaft vererben“. (S. 115) Dazu werden vornehmlich die Arbeiten Meyer-Drawes und Lippitz‘ rekonstruiert, wenn aber auch Exkurse zu Eugen Fink und Otto Friedrich Bollnow gemacht werden. Für die Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik kommt sie zu einem ähnlichen Urteil wie bei Merleau-Ponty: „Nennungen des Körpers sind lediglich einer Vereinfachung der Theoriebildung oder einer begrifflichen Ungenauigkeit zuzuschreiben, die den Körper zum Leib macht und Materialität so schließlich auch sprachlich jeder möglichen Theoretisierung entzieht.“ (S. 144) Anders gesagt: Es handelt sich „um eine fehlende Differenzierung der Begrifflichkeiten“. (S. 152) Alles in allem kommt sie zu dem Schluss, dass mit Merleau-Pontys schon ein Weichenstellung gestellt ist, die zu einer „Vergeistigung des Leibes“ (S. 158) führt. Deswegen ließe sich sagen, dass „eine anerkennende Theorie des unverfügbaren Körpers fehlt.“ (S. 162)
Wie weiter? Der zweite Teil „Unverfügbarkeit als Modus körperlicher Existenz“ lässt sich als Spiegelung zum ersten lesen. Breil schlägt vor die im Kontext von Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik „nicht in ausreichendem Maß“ (S. 163) beachteten Phänomenologien Sartres und Beauvoirs einzubeziehen. Dabei ist nicht ihr Anliegen, die bis hierhin untersuchten Phänomenologien zu verwerfen, sondern zu erweitern. Sartre als existenzialistischer Phänomenologie biete sich deswegen an, weil „Erfahrungen der eigenen Körperlichkeit im Sinne eines materiellen Selbstseins durchaus einen zentralen Bestandteil seiner Phänomenologie darstellen.“ (S. 202) Dreh- und Angelpunkt ist für Breil bei Sartre sein dreifaltiges Körper-Konzept fruchtbar zu machen: „„Der Körper-für-Andere ist kein Objekt-Körper, sondern er ist die leibliche Möglichkeit einer Erfahrung des Objekt-Körpers. Auf diese Weise ist es mit Sartre möglich, den eigenen Körper als Objekt zu empfinden, ohne selbst Objekt zu sein. So können schließlich dualistische Erfahrungen auf Basis einer nicht-dualistischen Körperlichkeit thematisiert werden, ohne dass die Erklärung ins Pathologische abdriftet.“ (S. 214) Denn, was sie im ersten Teil den rekonstruierten Autoren und Autorinnen vorhält, ist, dass diese zwar versuchen den Körper-Geist-Dualismus zu überwinden, aber einem neuen verfallen, und zwar einem Körper-Leib-Dualismus. Insofern wird mit Sartre also die theoretische Schnittstelle bereitgestellt, um phänomenologisch Erfahrungen körperlicher Entfremdung beschreiben zu können, also was der Ansicht Breils nach mit Merleau-Ponty nicht möglich war.
Wo Sartre das Gegenstück zu Merleau-Ponty ist, ist dies nun Beauvoir gegenüber zu Waldenfels: So ist Breil der Überzeugung, dass Waldenfels zwar Phänomene körperlicher Entfremdung beschreiben könne, dies aber nur pathologisierend. Mit Beauvoirs Theorie wird „der Rückgriff auf ein Vokabular ermöglicht, mit dem körperliche Existenz affirmativ beschrieben werden kann.“ (S. 270) Beauvoirs Werk zeichne sich durch die „konkrete Auseinandersetzung mit der eigenen Existenz, also auch mit der eigenen Unverfügbarkeit“ aus. (S. 270) Hierdurch würde eine „Ethik des Scheiterns“ (S. 270) ermöglicht, welche nach Breils Ansicht unabdingbar für das Geschäft phänomenologischer Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik sei. Denn das ist letztlich auch das Ziel von Breil: Die Zielgruppe der Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik ist diesen Erfahrungen ausgesetzt, sie selber aber haben ihrer Ansicht nach nicht die Mittel, diese Erfahrungen theoretisch einzuholen. Insofern geht es ihr weniger um eine dezidierte Phänomenologie körperlicher Entfremdung als mehr der Vorarbeit hierfür und wie diese Theoriebausteine für besagte Bereiche fruchtbar gemacht werden können. Sie fordert aus diesen Gründen ein „Weiterdenken des Bildungsplans in Richtung der auch körperlichen Existenz“. (S. 270) Die Rezeption von Sartre und Beauvoir ermöglicht es nach Breil, einerseits das Kontigente und Sinnlose überhaupt zu denken und andererseits diesen Erfahrungen ihre Legitimität zuzugestehen.
Im abschließenden Teil kritisiert Breil bisherige Bildungspläne in der Ethik vor dem Hintergrund der Erfahrung der Lernenden und plädiert dafür, das Thema körperlicher Unverfügbarkeit in den Lehrplan mitaufzunehmen. Denn „die Bezugnahme auf den Körper [zeichnet sich] durch eine fehlende Grundlagenreflexion aus, die sich nicht zuletzt in der undifferenzierten Verwendung der Begriffe Körper und Leib ausdrückt.“ (S. 282) Dies wird durch ihre Rekonstruktion begründet, die mit Sartre und Beauvoir zeigen sollte, wie Identität (auch) durch Entfremdungserfahrungen gestiftet wird: „Durch die vertiefte Kenntnis über Verfahren der Identitätskonstitution wird die Wichtigkeit von Entfremdungserfahrungen und Erfahrungen der Bedeutungslosigkeit für die Herausbildung eines authentischen und emanzipierten Selbst hervorgehoben.“ (S. 283) Insofern käme diesem Themenbereich eine „orientierende Funktion“ (S. 296) für die Lernenden zu.
Breil hat also versucht aufzuzeigen, dass das Phänomen körperlicher Entfremdung nicht nur eine Leerstelle in bestimmten Phänomenologien ist, sondern dass dieser Erfahrung auch eine identitätsstiftende Funktion zukommt, weswegen es begründet sei, diesem Themengebiet einen Platz im Bildungsplan einzuräumen. Sie charakterisiert ihre Ausführungen als Vorarbeit: „Diese Überlegungen stellen den theoretischen Unterbau eines noch weiter zu entwickelnden körper- und situationstheoretischen Ansatzes in der Philosophiedidaktik dar, der als Ergänzung zu bisherigen Ansätzen zu verstehen ist“. (S. 296)
Das Buch zeichnet sich durch eine enge Auseinandersetzung mit den genannten Autoren und Autorinnen aus. Es wird hier vornehmlich klassische Rekonstruktionsarbeit geleistet, denn eigene Phänomenbeschreibung geliefert. Anders gesagt: Die phänomenologische Tradition wird daraufhin überprüft, inwieweit sie das Phänomen körperlicher Entfremdung mitbedacht hat oder gar mit den je eigenen begrifflichen Mitteln denken kann. Das ist zugleich Stärke und Schwäche von Breils Arbeit: Sie kann begründet aufzeigen, dass das Phänomen körperlicher Entfremdung in den Diskussionen wenig bedacht ist und versucht anhand der Theoriebausteine Wege und Möglichkeiten zu finden, diese Erfahrung adäquat zu beschreiben. Zugleich bedeutet dies sehr viel Textdiskussion. Das ist insoweit eine verpasste Chance, als dass die wenigen Momente, in denen Breil selber als Phänomenologin in Erscheinung tritt, sehr vielversprechend sind.
Die Rekonstruktionen zeichnen sich durch eine enorme Belesenheit aus: Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sich Breil bei jedem der vier Autoren und Autorinnen nicht weniger als das Gesamtwerk zu eigen gemacht hat – und das umfasst in den Fällen Sartre und Beauvoir auch das literarische Werk. Insofern hat man es mit einer bedachten und sehr informierten Rekonstruktion zu tun. Diese bleibt allerdings auch immer diskutabel: Klopft Breil zwar jeweils das Gesamtwerk hinsichtlich ihres Themas ab, so liegt es in der Natur der Sache, dass jede Rekonstruktion einer tour de force gleicht. Hier wäre es womöglich besser gewesen entweder selektierter auf das Thema hin zu arbeiten und Voraussetzungen dann Voraussetzungen sein zu lassen oder aber mehr als Autorin und insbesondere Kommentatorin in Erscheinung zu treten, die sich deutlicher in den Diskussionen verortet. So wird zwar beispielsweise alles darangesetzt, das schwer verständliche Spätwerk Merleau-Pontys für ihr Thema nutzbar zu machen, aber eine Einordnung und Kommentierung dessen fehlt größtenteils. Man möchte wissen, wie sie zu dem steht, was sie da rekonstruiert – abseits der Engführung auf körperliche Entfremdung.
Ohnehin bewegen sich die Rekonstruktionen auf einem schmalen Grat zwischen thematischer Instrumentalisierung und einer Rekonstruktion des Gesamtwerks. Zwar ist die Gliederung jederzeit übersichtlich, indem Theoriebaustein nach Theoriebaustein dargelegt wird. Aber es gibt Passagen, wo nicht klar wird, wer hier der ideale Leser ist. Das kann für manchen Leser dazu führen, dass der Zugang verwehrt bleibt, weil die Rekonstruktionen zu viel voraussetzen oder aber es führt für andere hingegen dazu, dass sie sich hier mehr Tiefgang und Diskussion der einzelnen Argumente wünschen. Breil zeigt aber immer ihre tiefe Kenntnis der Materie, was sich zuletzt auch am Literaturapparat sehen lässt. In jeglicher Hinsicht ist der aktuelle Forschungsstand und die dazugehörigen Debatten miteingearbeitet und (in den Fußnoten) diskutiert. Das ist sicherlich auch eine Stärke ihrer Arbeit, die die breite Anschlussfähigkeit der Phänomenologie und den hier besprochenen Themen zeigt – andere mögen dann aber hier auch wieder Tiefgang vermissen, wenn beispielsweise über die „Digitalisierung der Lebenswelt“ gesprochen wird (S. 44 und 300).
Der Überzeugungskraft des ersten Teils wäre es entgegengekommen, wenn man zuerst die Defizite in der Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik aufgezeigt hätte und woraus sich diese eigentlich speisen. So erscheinen Merleau-Ponty und Waldenfels – überspitzt gesagt – als Wurzel allen Übels in diesen Bereichen – ohne dass man ihnen hier aber die Verantwortung geben könnte. Denn Breils Anliegen gemäß sieht sie ja vielmehr das Versäumnis in den beiden Bereichen, denn bei den Autoren. Anders gesagt: Das Problem besteht weniger bei Merleau-Ponty und Waldenfels, denn vielmehr was in Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik und wofür es rezipiert wird.
Für Breils These, dass Entfremdungserfahrungen identitätsstiftend sind, fragt man sich, warum dafür Hegel herangezogen werden muss, insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich ja um eine Arbeit im Bereich der Phänomenologie handelt. Denn dafür sind ja Sartre und Beauvoir geeignete Gesprächspartner – wie Breil ja selber zeigt. Hingegen kann eher noch angemerkt werden, dass Breil etwaige wichtige Gesprächspartner entgangen sind: Jens Bonnemann, Iris Marion Young und Susan Brison. Bonnemann versucht mit einer Phänomenologie des Widerfahrnis grundlegend die pathische Seite des Erlebens zu beschreiben[1]; Young unternimmt den Versuch sozialgenetische Erfahrungen körperlicher Unverfügbarkeit darzulegen[2]; Brison – zwar keine dezidierte Phänomenologin – beschreibt anhand ihrer erlebten Vergewaltigung und den Erfahrungen danach, was dies mit ihrer Identität macht.[3]
Breils Buch bietet für all diejenigen, die an der Leibphänomenologie interessiert sind einen guten Überblick über grundlegende Konzepte. Darüber hinaus besticht es durch weitumspannende Rekonstruktionen der genannten Autoren und Autorinnen. All dies wird entlang der Frage nach dem Verhältnis von Leib, Körper und Selbst entwickelt. Aufgrund dieser Charakteristika ist ihr Buch für all diejenigen empfehlenswert, die sich nur für bestimmte Teile interessieren. Die Kapitel sind in sich schlüssig und bieten einen guten Umfang, um einerseits einen Überblick zu bekommen, aber auch andererseits schon tiefer einzusteigen. Und aufgrund ihres interdisziplinären Ansatzes bietet es dann auch Anschlussmöglichkeiten für Erziehungswissenschaft und Philosophiedidaktik, hinsichtlich dieser Achse. Denn Breils Verdienst ist es Sartre und Beauvoir überhaupt in das Fachgespräch zu bringen. Beide sind bisher nämlich wenig rezipiert. Hier leistet Breil dann wichtige Vorarbeit, indem sie ausgehend von beiden Theorien einen körper- und situationstheoretischen Ansatz für die Lehre entwickelt.
[1] Jens Bonnemann. 2016. Das Widerfahrnis der Wahrnehmung. Eine Phänomenologie des Leib-Welt-Verhältnisses, Münster.
[2] Iris Marion Young. 2020 [1980]. Werfen wie ein Mädchen. Ein Essay über weibliches Körperbewusstsein, Stuttgart.
[3] Susan J. Brison. 2022. Aftermath.Violence and the Remaking of Self, Princeton.