
Philosophie der Psychopathologie, Philosophische Anthropologie
Karl Alber
2024
Hardcover
342
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Seit einigen Jahren schon ist sowohl in der deutschen wie auch der internationalen Diskussion ein großes Interesse an der Verknüpfung phänomenologischer Theoriebildung und Grundlagenproblemen der Psychopathologie zu erkennen. Dabei ist zu beobachten, dass sich die phänomenologisch orientierten Beiträge (naheliegenderweise) vor allem an der Frage abarbeiten, was das ‚Wesen‘ psychischer Krankheit ausmacht und welche Rolle sie hinsichtlich der Gegebenheit von Lebenswelt (bzw. der Interaktion mit ihr) spielen. In diesem Zusammenhang beziehen sich die meisten Ansätze auf Klassiker wie z. B. Husserl oder Merleau-Ponty.
Christian Schmidt verfolgt in seiner Studie zu Traumata, Ersterlebnissen und Personalität ein doppeltes Anliegen: Erstens geht es ihm darum, einen Zugang zum Phänomen des Traumas zu erschließen. Dazu soll mit dem Begriff des „bedeutungsvollen Ersterlebnisses“ ein Gattungsbegriff herausarbeitet werden, der es gestatten soll, neben den Traumata als Ersterlebnissen der „Diskrepanz“ auch Erlebnisse der „Kongruenz“ zu artikulieren (15). Zweitens soll gezeigt werden, dass die Verwirklichung von Personalität in der Lebensführung von Menschen als ‚Aufgabe‘ die Kontextualisierung bedeutsamer Ersterlebnisse (seien sie nun erhebend oder erschütternd) einschließt (15). Dabei bezieht er sich zum einen auf Karl Jaspers und die Denker des sog. „Wengener Kreises“ – hier schwerpunktmäßig Ervin Straus und Victor Emil von Gebsattel – sowie zum anderen auf Max Scheler und Helmuth Plessner, also zwei Protagonisten der Denktradition der Philosophischen Anthropologie.
Zunächst erarbeitet Schmidt einen Überblick über psychiatrische und psychopathologische Ansätze zum Trauma, wobei er auch die einschlägige Entwicklung der PTBS-Forschung beleuchtet (17 ff.). Besonders interessieren ihn an dieser Stelle Alternativen zu neurobiologischen Mainstream-Theorien, etwa das von G. Fischer und P. Riedesser vertretene Verständnis von Traumata als „Erschütterung von Selbst- und Weltverhältnis“ (48) als Folge des Erlebens einer „schutzlosen Preisgabe“ an „bedrohliche Umweltfaktoren“ (52). Diesen Theorien und den darauf fußenden verhaltenstherapeutischen Ansätzen kann Schmidt bereits einiges abgewinnen, er kritisiert jedoch die Fixierung auf das Erlebnis selbst, das in der Therapie bewusst durchgearbeitet werden soll (53). Als Erweiterung schlägt er vor, den biografischen Zusammenhang der Person verstärkt zu berücksichtigen, um traumatische Erlebnisse kontextualisieren und zu anderen bedeutungsvollen Ersterlebnissen in Beziehung setzen zu können. Für einen solchen Ansatz bedarf es jedoch einerseits einer systematischen Erschließung des Begriffs bedeutungsvoller Ersterlebnisse sowie andererseits eines Zugangs zur Person und ihrem biografischen Zusammenhang. Da die Ansätze von Straus und Gebsattel von einer ähnlichen Grundintuition ausgehen, erscheint ihre Rezeption besonders naheliegend, auch wenn Schmidt sich (im Anschluss an Passie und Borck) darüber im Klaren ist, dass diese Rezeption zugleich kritisch-distanziert erfolgen muss.
Die nächsten Kapitel beinhalten jeweils Kombinationen von kurzen biografischen Darstellungen und informativen Werksanalysen der Denker Straus und Gebsattel. Hier weist Schmidt darauf hin, dass die beiden Denker gegensätzliche Zugriffe entwickeln, die sich allerdings bis zu einem bestimmten Punkt ergänzen: Beiden ist die Auffassung gemeinsam, dass bedeutungsvolle Ersterlebnisse in den Bedeutungszusammenhang der personalen Biografie zu integrieren sind (105). Während Straus nun die Erfordernis leiblich-lebendiger Spielräume und eines offenen Deutungshorizonts (Kultur) für eine „gestaltende Beantwortung“ von Situationen betont (113), hebt Gebsattel den „numinosen“ Widerfahrnischarakter von Ersterlebnissen hervor und verweist auf die Bedeutung höherer Werte, um die Patientin von Selbsttäuschungen und Verlorenheit zu befreien (122–135). Mit den unterschiedlichen Zugriffen gehen auch verschiedene Vorstellungen hinsichtlich der Rolle der Therapeutin einher: Während es bei Straus vor allem darum zu gehen scheint, unter Bejahung lebendiger Individualität zur Einnahme einer deutenden Haltung zu verhelfen (143), geht Gebsattel offensichtlich weiter, indem die Therapeutin hier als eine Art Seelsorger-Figur die Deutungshoheit über die gelungenen oder misslungenen Orientierungen auf höhere Werte übernehmen soll (131, 143). Ein derartiges Verständnis sieht Schmidt kritisch, indem er schreibt:
„Könnte die suggestive Wirkung eines seelsorgerischen Psychotherapeuten wie Gebsattel bei seinen Patientinnen nicht durchaus bewirken, dass sie numinose Qualitäten in ihre früheren Erlebnisse hineinfantasieren, um sich mit Gebsattels Hilfe in eine transzendentale Heilsphäre zu retten […]? Anders gefragt: Was wäre mit all jenen Patientinnen anzufangen, die nicht dazu im Stande sind, in ihren Erlebnissen numinose Qualitäten zu identifizieren und diese zur Entfaltung zu bringen?“ (143)
Neben dieser Gefahr einer mit der Therapeutin ‚mitvollzogenen‘ „Selbstmystifizierung“ (143) der Patientin gibt Schmidt ferner zu bedenken, dass eine solche Auffassung der Figur der Therapeutin mit der seelsorgerischen Autorität auch ein großes Maß an Verantwortung aufbürdet, das in der Realität therapeutischer Praxis schwer einzulösen ist (160).
Im Anschluss an die Rezeption der beiden Denker entwickelt Schmidt eine Lesart des bedeutungsvollen Ersterlebnisses als Gattungs- oder „Überbegriff“ (139) für Erlebnisse, die durch ihre „Erstmaligkeit“ (105) der Biografie neue Richtungen geben oder zu Brüchen führen. Dabei kann es sich nicht nur um Erlebnisse der „Diskrepanz“ (Trauma), sondern auch der „Kongruenz“ handeln (138 f.). Auf dieser Basis skizziert er ein Verlaufsmodell, das erstens die psychovitale Vorsequenz, zweitens das Ersterlebnis und drittens die Integrationsphase umfasst (144 f.). Im Vergleich zu den eingangs erwähnten Traumatheorien besteht seine Pointe darin, dass eine hermeneutische Deutung der sich in der Biografie zeigenden psychovitalen Vorsequenz nötig ist, um die bedeutungsvollen Ersterlebnisse integrieren zu können.
Der zweite Teil des Buches zielt darauf ab, im Anschluss an Helmuth Plessner und Max Scheler eine Lesart von Personalität zu entwickeln. Auch hier verfährt Schmidt wieder nach dem Schema Biografie, Werkschau und Schlussfolgerung, wobei er auch einschlägige Anschlüsse wie die Arbeiten von Hans-Peter Krüger, Matthias Wunsch und Moritz v. Kalckreuth einbezieht. Analog zu den gegensätzlich-komplementären Konzeptionen von Gebsattel und Straus stellt er hier Plessners Bezug auf das Leiblich-Lebendige (221 ff.) der Fokussierung Schelers auf Liebe, Fühlen und Werthaftigkeit (268 ff.) gegenüber. Im systematischen Schlusskapitel erschließt Schmidt schlussendlich das „Diskurssystem“, das sich ausgehend von den vier Positionen ergibt (310). Während Straus und Plessner die Person vom Lebendigen und dem sich durch Leiblichkeit und Positionalität ergebenden „Spielraum“ (319) her charakterisieren, sieht er bei Scheler und Gebsattel eine Bestimmung des Personalen ausgehend von der Bezogenheit auf (a)personal Geistiges und Werthaftes (311, 319).
Die Verbindung der Fragen nach bedeutungsvollen Ersterlebnissen und nach Personalität besteht letztlich darin, dass es die Betrachtung bedeutungsvoller Ersterlebnisse (inkl. Traumata) vor dem Hintergrund der Person und ihrer Biografie (statt isoliert als Einzelereignis) gestattet, die eigene Personalität zu behaupten und zu entfalten – was Schmidt als „personales Wachstum“ vom psychotherapeutischen Trendbegriff „posttraumatischen Wachstums“ abgrenzt (323–326). Auf diese Weise wird die Idee von gelingender Personalität als „Aufgabe“ mit einbezogen, ohne sie – so seine Kritik an Jaspers – als „heroische Verantwortungsübernahme“ (140) angesichts von Grenzsituationen zu stilisieren. Auch wenn man sich an dieser Stelle vielleicht eine etwas ausführliche Entfaltung dieser systematisch wichtigen Schlussfolgerung gewünscht hätte (sowie ggf. eine Verortung zu ähnlich anmutenden Ansätzen wie etwa Anwendungen der Resonanztheorie), so leuchtet doch ihre Implikation für die therapeutische Praxis völlig ein.
Insgesamt stellt Christian Schmidts Buch eine sehr gelungene Verbindung von Psychopathologie, philosophischer Diskussion und Intellektuellenbiografie(n) dar. Dabei erscheinen drei Momente besonders hervorhebenswert: Erstens gelingt es ihm einerseits, den psychiatrisch-therapeutischen Status quo der Traumaforschung für eine Leserschaft aus der Philosophie überzeugend zu rekonstruieren, sowie andererseits die philosophischen Kategorien des bedeutungsvollen Ersterlebnisses und der Person auf eine Weise zu verteidigen, die auch Leserinnen aus der psychiatrischen oder therapeutischen Praxis einleuchten dürfte. Zweitens mag die Verbindung von komprimierter Werkschau und Biographie der besprochenen Denker zwar gelegentlich über das inhaltliche Anliegen des Buches hinausgehen, sie ist aber dennoch insofern hoch informativ, als sie zeigt, wie sich bei Gebsattel, Straus und Binswanger theoretische Anschauungen und die eigene therapeutische Tätigkeit zueinander verhielten. Drittens wahrt Schmidt – bei aller inhaltlichen Sympathie – eine vorbildliche Sachlichkeit und intellektuelle Redlichkeit, die sich insbesondere in der kritischen Reflexion der Rolle des Therapeuten zeigt.