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221319

(1994) Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer.

Gründe veränderter Einstellung zu unseren Wissenschaftlich-technischen Lebensvoraussetzungen II

Erfahrungsverluste

Hermann Lübbe

pp. 56-60

Moderne wissenschaftliche Weltbilder haben einen common-sensetranszendenten Status. Das bedeutet, wie wir gesehen haben, nicht einfach, daß das Wissen der wissenschaftlichen Experten sich immer weiter über das Wissen hinaus erstreckt, zu dem sich auch der Laie noch Zugänge erschließen könnte. Es bedeutet vor allem, daß die Ergebnisse moderner Forschungspraxis als Auskünfte über das, was in lebenswelttranszendenten Wirklichkeitsräumen der Fall sei, in kognitiver Hinsicht lebensweltlich überhaupt irrelevant sind. Erst über soziale und kulturelle Rückwirkungen technischer Anwendungen berühren moderne wissenschaftliche Theorien auch unsere lebensweltlichen Erfahrungen, verlangen oder bewirken Erweiterung oder Umbau unserer lebensweltlichen Horizonte. Aber das verlangt, sofern wir nicht auf dem fraglichen Gebiet gerade die professionelle Sonderrolle eines forschungspraktischen oder technischen Experten spielen, Versuche, im Urteil über Sinn und Validität jener Theorien Kompetenz zu erwerben. Analoges gilt nun auch, über den kognitiven Aspekt der Sache hinaus, für die praktische, näherhin politische Seite des zivilisationsspezifischen Vorgangs, daß nämlich die Urteilsreichweite des Common sense, des Gemeinsinns, relativ immer weiter hinter dem Umkreis unserer realen Lebensvoraussetzungen zurückbleibt. Common sense — das ist nicht nur ein beiläufiges Wort in unserem englisch angereicherten Neudeutsch. Common sense — das ist vielmehr, in seiner neuzeitlich primären Bedeutung, ein Begriff früher Demokratietheorie zumal im westeuropäischen frühen 18. Jahrhundert72. Es handelt sich um einen Begriff dessen, was man, wenn nicht als gleichverteilt, so doch als gemeinverteilt unterstellen muß, wenn man allgemeine Mitwirkungsrechte Betroffener an den politischen Beratungsund Entscheidungsprozessen plausibel begründen können will. Common sense — das ist ein Begriff jener gemeinen bürgerlichen Urteilskraft, über die, sozusagen, jeder Billy Smith ebenso verfügt wie die Lords oder gar wie der Erzbischof von Canterbury.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-57937-0_4

Full citation:

Lübbe, H. (1994). Gründe veränderter Einstellung zu unseren Wissenschaftlich-technischen Lebensvoraussetzungen II: Erfahrungsverluste, in Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer, pp. 56-60.

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