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218454

(1990) Geschichte als Literatur, Stuttgart, Metzler.

Die Trieblizenz des historischen Erzählens

Am Beispiel von Gotthelfs "Kurt von Koppigen"

Peter von Matt

pp. 161-171

Wie viele der großen bürgerlichen Dichter, die sich unter die Pflicht gestellt sahen, die feste Ordnung zu zeigen, das rechte Leben zu lehren und alle Maß- und Schrankenlosigkeit zu bannen, war Gotthelf von Katastrophen fasziniert. Nicht anders als bei Stifter gewinnt bei ihm das Erzählen seine höchste Gewalt, wo es von der höchsten Gewalt in der Natur handelt. Und wenn C. F. Meyer berichtet, wie der sterbende Gottfried Keller von ausbrechenden Wassern phantasierte, von der großen Überschwemmung, die den zweiten Teil des Salander-Romans abschließen sollte1, muß man daran erinnern, daß Meyer selbst die riskanteste Szene seines literarischen Schaffens, den Bekenntnismoment der inzestuösen Liebe in der Richterin — »Ich begehre die Schwester!« —, an einen Ort der tobenden Gewässer, der »rasenden Flut« versetzt hat.2 Mit einem »furchtbaren Eisgang« und der Überschwemmung der Leopoldstadt endet Grillparzers Erzählung vom Armen Spielmann. Und Stifter, der sich dieser Dichtung nur erwehren konnte, indem er eine Echo-Erzählung dazu schrieb, den Armen Wohltäter (den späteren Kalkstein), gestand die intertextuelle Verknüpfung ein durch die Aufnahme eben dieser Thematik. Zum Spielmann wie zum Wohltäter gehört die Situation, wo sie bis zur Brust in den kalten Wassern der ausgetretenen Flüsse stehen.3 Gotthelf, der mit der Wassernot im Emmental einen der hinreißendsten Tatsachenberichte seines Jahrhunderts geschrieben hat, erlebte das eigene Schreiben als einen Vorgang, der anders nicht denn als ein solcher Ausbruch von Wassergewalt zu begreifen war.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-476-03341-3_14

Full citation:

von Matt, P. (1990)., Die Trieblizenz des historischen Erzählens: Am Beispiel von Gotthelfs "Kurt von Koppigen", in H. Eggert, U. Profitlich & K. R. Scherpe (Hrsg.), Geschichte als Literatur, Stuttgart, Metzler, pp. 161-171.

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