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221319

(1994) Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer.

Gründe veränderter Einstellung zu unseren Wissenschaftlich-technischen Lebensvoraussetzungen III

Die abnehmende Reichweite unserer Zukunftsvoraussicht

Hermann Lübbe

pp. 68-71

Als weitere zivilisationsspezifische Belastungserfahrung, deren Gewicht mit dem Grad der Verwissenschaftlichung und Technisierung unserer Lebensgrundlagen zunimmt, ist die schwindende Reichweite unserer Zukunftsvoraussicht geltend zu machen. "Zukunftsgewißheitsschwund" — so ließe sich dieser Bestand kennzeichnen. Mit dieser Kennzeichnung ist keinerlei Spenglerei gemeint. Ein schlimmer Ausgang der Dinge hienieden soll damit nicht insinuiert sein. Unzweifelhaft ist, daß wir Zeit-Zeugen von Vorgängen sind, die, wenn nichts geschähe, sie zu stoppen oder in andere Richtung zu lenken, regional und schließlich global in Zivilisationskatastrophen enden müßten. Die bereits früher erwähnten Vermessungen von Wachstumsgrenzen haben das einschlägige Wissen längst zum medial weltweit verbreiteten Gemeinwissen werden lassen. Aber solches Wissen ist ja nichts anderes als extrapoliertes Gegenwartswissen, und nichts steht im Prinzip entgegen, dieses Wissen für die Projektierung fälliger Gegenmaßnahmen zu nutzen. So geschieht es längst, in einigen Hinsichten sogar erfolgreich, so daß insoweit auch Zuversicht berechtigt sein mag. Wir mögen also sogar den Herausforderungen unserer Zivilisationskrise gewachsen sein. Wie auch immer: Am hier gemeinten Bestand zivilisationsspezifisch schwindender Zukunftsvoraussicht ändert das nichts. Nie hat eine Zivilisationsgenossenschaft über ihre Zukunft, die ihr bevorsteht, weniger gewußt als unsere eigene. Umgekehrt heißt das: Was immer das Leben der Menschen in früheren Zivilisationsepochen belastete — über die Zukunft, auf die man sich einzustellen hatte, vermochte man früher ungleich Genaueres zu sagen als wir es heute vermögen. Das klingt im Zeitalter einer wie nie zuvor blühenden sogenannten Futurologie paradox. Wieso sollten wir gerade gegenwärtig, wo wir doch jederzeit die Beratung durch wissenschaftliche Einrichtungen in Anspruch nehmen können, die ihre Dienstleistungen sogar unter dem Institutionen-Namen "Prognos' anbieten, weniger als frühere Zivilisationen über die Zukunft, die uns bevorsteht, wissen? Das ist deswegen so, weil zu jeder früheren Zeit die Menge der die zivilisatorische Lebenssituation strukturell verändernden Ereignisse pro Zeiteinheit ungleich geringer war als sie es heute ist. Die Menge der unsere Lebenssituation strukturell verändernden Ereignisse pro Zeiteinheit wächst mit der Menge verfügbaren Wissens, das wir in technologischer Transformation nutzen. Entsprechend war die Zukunftsgewißheit früherer Kulturepochen einfach deswegen größer, weil die Wahrscheinlichkeit ungleich größer war, daß die Zukunft der Gegenwart in der Struktur gegebener zivilisatorischer Lebensvoraussetzungen im wesentlichen gleichen werde. Eben diese Wahrscheinlichkeit nimmt, wie man leicht erkennt, mit der Dynamik wissensabhängiger zivilisatorischer Evolutionen ab.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-57937-0_6

Full citation:

Lübbe, H. (1994). Gründe veränderter Einstellung zu unseren Wissenschaftlich-technischen Lebensvoraussetzungen III: Die abnehmende Reichweite unserer Zukunftsvoraussicht, in Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer, pp. 68-71.

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