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221319

(1994) Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer.

Postmodernes

Hermann Lübbe

pp. 121-126

Die Überforderung des historischen Bewußtseins gemeiner Bildung ist angesichts solcher expositionstechnisch simultan überblickbar gemachten kulturevolutionären Reliktmengen evident. Einzig noch Spezialisten gegenwartsbezogener Kunsthistoriographie sind in der Lage, die fragliche Reliktansammlung genetisch zu ordnen oder auch nur in dieser Ordnung zu rezipieren. Die Ordnung einer Entwicklung in eine Menge gesammelten Materials zu bringen — eben das war ja in den Anfängen kunsthistorisch reflektierter Musealisierung der Bildungssinn dieser Musealisierung gewesen, bei Wilhelm von Humboldt zum Beispiel, der als Vorsitzender der Einrichtungskommission des ersten öffentlichen Kunstmuseums in Preußen konträr zu vorhistoristischen Sammlungsund Ausstellungsprinzipien verfügte, in der Exposition der Objekte ihre historisch-genetische Abhängigkeit voneinander sichtbar werden zu lassen. Die Absicht solcher Erweckung eines kunsthistorischen Bewußtseins beim gebildeten Publikum konnte in einer Zeit, in der Werke der Kunst, die vor vierzig oder gar fünfzig Jahren entstanden waren, noch zur Gegenwartskunst gezählt wurden, als unproblematisch erscheinen. In avantgardistisch bewegten Entwicklungen hingegen wird schließlich die Kapazität des gemeingebildeten historischen Bewußtseins zur genetischen Aufbereitung simultaner Ungleichzeitigkeiten hoffnungslos überfordert. Das bedeutet: Die unübersehbare Menge der Objekte, die wir in ihrer extremen Unterschiedlichkeit nicht mehr in die Ordnung einer Evolution zu bringen vermögen, gewinnt eine Qualität zurück, die Reliktsammlungen bereits in vorhistoristischer Zeit interessant gemacht hatten, nämlich die Qualität des Kuriosen. Weit gefehlt, daß das historische Gemeinbewußtsein im Anblick der nicht mehr verarbeitungsfähigen kulturevolutionären Reliktmenge in einen Zustand der Verzweiflung über die evidente Unzulänglichkeit seiner historischen Bildung geriete. Wir machen ganz im Gegenteil die unser Selbstgefühl steigernde Erfahrung wiedergewonnener Souveränität. Ist die Rekonstruktion realer Genesen definitiv zur Spezialistensache geworden, gewinnt der gemeine Kulturgenosse die uneingeschränkte Freiheit des Liebhabers zurück. Er läßt, was in historisch nicht mehr einordnungsfähiger Fülle beim Marsch durch die Ausstellungshallen seinem Blick sich darbietet, sozusagen Revue passieren und registriert einzig, was ihm, aus welchen Zufallsgründen auch immer, gefällt. Kurz: Die intellektuelle Zentraltugend des vorhistoristischen Aufklärungszeitalters, der Eklektizismus, wird seiner unwidersprechlichen Nötigkeit wegen rehabilitiert. Das Architekturprogramm der sogenannten Postmoderne beweist es124.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-57937-0_10

Full citation:

Lübbe, H. (1994). Postmodernes, in Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer, pp. 121-126.

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First Edition

Postmodernes

1990

Hermann Lübbe

in: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht : Springer