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221319

(1994) Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer.

Die ökologische Krise relativiert nicht, was uns in der modernen Zivilisation sonst noch bedrängt

Hermann Lübbe

pp. 127-132

Die ökologischen Folgeprobleme des Industrialisierungsprozesses, von denen ja bislang noch nicht die Rede war, sind unzweifelhaft die mit Abstand gewichtigsten in der langen Reihe von Problemen, unter deren Druck unsere Einstellung zu unseren wissenschaftlich-technischen Lebensgrundlagen gegenwärtig sich wandelt. Wer aus dem Blickpunkt dieser ökologischen Probleme sich die bislang behandelten Folgeprobleme des Zivilisationsprozesses vergegenwärtigt, mag finden, sie seien doch eher von vernachlässigungsfähig geringer Größenordnung. Wen bewegt denn schon der kulturelle Bedeutsamkeitsverlust wissenschaftlicher Weltbilder? Werden die skizzierten Erfahrungsverluste von Medienkonsumenten, die sich doch wohlinformiert finden, als Orientierungsproblem überhaupt wahrgenommen? Wen drückt der Bestand, der oben mit dem leicht drollig wirkenden Neologismus "Gegenwartsschrumpfung" gekennzeichnet wurde? Sind die angedeuteten Erfahrungen einer Überforderung unseres historischen Sinns durch die hohe Änderungsdynamik unserer Zivilisation nicht viel zu subtil, als daß sie über Intellektuelle, die sich professionell mit Problemen der Vergangenheitsvergegenwärtigung herumzuschlagen haben, irgend jemanden bedrängen könnte? Würde es insofern nicht genügen, in der Reihe der Gründe zunehmender emotionaler Distanz im Verhältnis zu unseren wissenschaftlich-technischen Lebensgrundlagen auf unsere Erfahrungen mit der ökologischen Krise zu verweisen? Die Antwort scheint mir zu lauten: Es wäre eine Verharmlosung unserer Lage, wenn wir in unserer Bedrängnis durch die Herausforderungen der ökologischen Krise unseren Sinn für andere und zusätzliche industriegesellschaftliche Krisenerscheinungen verschlössen. Dabei ist, objektiv, das Gewicht der Probleme, die es über die ökologischen Probleme hinaus gegenwärtig auch noch gibt, nicht einmal gering. Man erkennt das, wenn man sich aus den Aufmerksamkeitsblockaden, wie sie durch die ökologische Dauerkrisenberichterstattung unserer Medien leicht bewirkt wird, einmal löst, und in dieser Absicht ist hier von Faktoren veränderter emotionaler Befindlichkeit, die ganz unabhängig von unseren ökologischen Krisenerfahrungen wirken, so ausführlich die Rede gewesen. Der in der Reihe dieser Faktoren eingangs erläuterte kulturelle Bedeutsamkeitsverlust wissenschaftlicher Weltbilder ist alles andere als ein Vorgang, der vorzugsweise philosophische Seminare, kirchliche Lehrämter, Weltanschauungsvereine oder auch die Ideologieabteilungen großer Weltanschauungsparteien zu beschäftigen hätte. Auch handelt es sich nicht um einen Vorgang, der in erster Linie Verleger und Buchhändler beträfe, die, bei aller Blüte populärwissenschaftlicher Literatur, nicht mehr hoffen können, wissenschaftliche Bestseller vom kulturellen Status einer Anti-Religion ins Programm zu bekommen, wie das im späten 19. Jahrhundert und noch zur Jahrhundertwende mit David Friedrich Strauß" "Der alte und der neue Glaube" und, erfolgreicher noch, mit Haeckels "Welträthsel" gelang. Kultureller Bedeutsamkeitsverlust wissenschaftlicher Weltbilder — das bedeutet nichts Geringeres als das Verschwinden des emanzipatorischen Glanzes, der über das ganze Aufklärungszeitalter hinweg den wissenschaftlichen Fortschritt umgab. Nicht, daß dieser Fortschritt inzwischen als Illusion erwiesen wäre. Die Sache verhält sich eher umgekehrt: In der Vollendung der kulturellen und rechtlichen Emanzipation des wissenschaftlichen Erkenntisfortschritts enthüllt sich, daß Sinnansprüche sich über diesen Fortschritt gar nicht bedienen lassen. Das kulturelle und politische Verhältnis zur Wissenschaft pragmatisiert sich. Das Prinzip der Relevanz wird zum dominanten kulturellen und politischen Legitimationsprinzip wissenschaftlicher Forschung, und man erkennt, daß eben dadurch unsere Zivilisationsgenossenschaft zu jener Wissenschaftsskepsis befreit worden ist, in der wir uns heute in der Einschätzung der Wissenschaft von Erfahrungen des Nutzens oder auch Nachteils ihrer Anwendung leiten lassen.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-57937-0_11

Full citation:

Lübbe, H. (1994). Die ökologische Krise relativiert nicht, was uns in der modernen Zivilisation sonst noch bedrängt, in Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer, pp. 127-132.

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