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221319

(1994) Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer.

Verantwortung

Hermann Lübbe

pp. 204-214

Das ist es, was die aktuellen Propheten der überfälligen großen moralischen Wandlung, unbeschadet der erwiesenen Medientauglichkeit ihres Charismas, über die Erzeugung von Gestimmtheiten hinaus unproduktiv bleiben läßt. Die gute Gesinnung, die sich an der Realität reibt, zerreibt sich selbst, wenn sie nicht zum Impuls verstandeskontrollierter Handlungen wird und an die Klugheit sich bindet. Selbstverständlich gibt es die großen Lebensperipetien, durch die der Mensch in einem einzigen Akt innerer Wandlung sich auf den rechten Weg zurückgebracht findet. Von Alkoholikern, häufiger noch von schweren Rauchern werden solche Geschichten erzählt; sie gehören zu den Standardgeschichten aktueller Alltagsmoralistik. Wer diese Beispiele läppisch fände und geltend machte, es stünde doch nicht die Gesundheit von Rauchern oder Alkoholikern auf dem Spiel, vielmehr die Zukunft unserer Zivilisation, hätte, bei allem Respekt vor den Leiden der Raucher und Alkoholiker, durchaus recht; aber er hätte, wenn er damit zugleich die Prophetie der überfälligen großen inneren Wandlung rechtfertigen möchte, auch die Verpflichtung zu sagen, wie denn der große kollektive Verhaltenswandel aussehen könnte, der, wie den Raucher der radikale Verzicht auf seine Zigarette, unsere Zivilisation sozusagen von heute auf morgen in einen Zustand wiedererlangter Zukunftsfähigkeit versetzte. Wären denn die oben schon erwähnten Aussteiger die Antwort auf diese Frage? Um es zu wiederholen: Es gibt keinen Grund, nicht mit Respekt die Lebensentscheidung jener Randgruppenkulturträger zu quittieren, die aufgelassene Bergbauernhöfe wieder in Betrieb setzen, sich in der Entwicklung durchaus universalisierungsfähiger Alternativkulturtechniken erfinderisch zeigen, ihren Lebensstandard nach hochzivilisatorischen Maßstäben um die Hälfte absenken und es zugleich verschmähen, über Umverteilungsrenten mit der Zivilisation, die sie für zukunftsunfähig halten, verbunden zu bleiben. Tatsächlich ist unsere Zivilisation reich und differenziert genug, um Aussteiger dieses respektablen Typus in wachsender Zahl in sich auszuhalten. Dennoch handelt es sich bei jenen Randgruppenkulturen um Alternativkulturen innerhalb unserer Zivilisation und nicht um Alternativen zu ihr. Mit der alternativkulturellen Disponibilität aufgelassener Bergbauernhöfe nähme es rasch ein dramatisches Ende, wenn die innere Wandlung, die ins alternative Leben treibt, wirklich einmal die Massen ergriffe, und ein Verteilungssystem auf Kriegsrechtsbasis wäre sozialtechnisch unvermeidlich, wenn wir massenhaft unseren Milch-und Käsebedarf durch Haltung von Ziegen sichern wollten, wie man sie hier und da auf Neubrachen weiden sieht.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-57937-0_18

Full citation:

Lübbe, H. (1994). Verantwortung, in Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer, pp. 204-214.

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First Edition

Verantwortung

1990

Hermann Lübbe

in: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht : Springer