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221319

(1994) Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer.

Das letzte Wort behält die Moral

Hermann Lübbe

pp. 223-224

Wir können also wissen, wozu uns der wissenschaftlich-technische Fortschritt gut zu sein hat, und in unseren Bemühungen, die uns aus dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zuwachsenden neuen Handlungsmöglichkeiten lebensdienlich zu normieren, erweist sich solches praktisches Wissen bis in die Gesetzgebung hinein als entscheidungs-und handlungsbestimmend. Das gilt nicht nur für den exemplarisch zuletzt herangezogenen bio-medizinischen Bereich. Für den Bereich des ökologisch relevanten Handelns gilt das nicht anders. Wozu uns die industriegesellschaftliche Zivilisation gut zu sein hat — diese Frage zu beantworten hat der übergroßen Mehrheit der Menschen bislang niemals Schwierigkeiten bereitet, und das moralische Recht dieser Antworten ist durch die belastenden Erfahrungen eines abnehmenden Grenznutzens der zivilisatorischen Evolution keineswegs in Unrecht verwandelt worden. Nicht Fachwissen, sondern elementare praktische Lebensorientierung ist es, auf die wir in letzter Instanz angewiesen sind, um Nutzen und Nachteil von Mitteln unseres Lebens gewichten zu können, und auch für Nutzen und Nachteil des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts gilt das. In der praktischen Validierung unserer industriegesellschaftlichen Lebensumstände bleibt die moralische Urteilskraft die souveräne Instanz. Aber die Antwort auf die Frage, was wir denn tun müssen, um zu können, was wir in moralisch zustimmungsfähiger Weise wollen, enthält eben nie nur Folgerungen aus Moralprinzipien. Sie enthält stets auch das Element empirisch korrekt beschriebener Situationen sowie das weitere Element empirisch gehaltvoller Theorien, die uns die wirklichkeitsverändernde oder auch wirklichkeitskonservierende Wirkung unserer Handlungen oder Unterlassungen erst realistisch einzuschätzen erlauben. Verwissenschaftlichung unserer zivilisatorischen Lebensgrundlagen bedeutet, daß der Anteil des wissenschaftlich elaborierten Wissens im Kontext der Begründungen unserer handlungsleitenden moralischen und juridischen Normen wächst. Ohne solches Wissen liefe der gute Wille leer, und der Aufruf zur Verantwortungswahrnehmung gewänne einen hohlen Klang. Daß wir bei unserem guten Wissen verpflichtet sind, alles zu tun, was nötig ist, um unsere naturalen und zivilisatorischen Lebensgrundlagen zu sichern — das wissen wir alle, sobald wir durch Mitteilungen von Experten wissen, daß unseren naturalen und zivilisatorischen Lebensgrundlagen in der Tat nie gekannte Gefahren drohen. Aber wer denn nun, individuell oder institutionell, was wann tun muß, um diesen Gefahren entgegenzuarbeiten — eben diese Frage läßt sich durch interne Gewissensanstrengungen nicht beantworten. Kennerschaften und Könnerschaften sind verlangt, und es wäre eine dreiste Unterstellung, die Subjekte solcher Könnerschaften und Kennerschaften für moralblinde Macher zu halten. Es waren, wie wir gesehen haben, moralisch zustimmungsfähige praktische Selbstverständlichkeiten, nämlich ihre evidenten Lebensvorzüge, in deren Geltungshorizont sich der industriegesellschaftliche Fortschritt vollzogen hat. Und abermals ist es moralisches Gemeinwissen, welches uns finden läßt, daß ein Fortschritt, dessen Nachteile in wichtigen Teilbereichen unseres Lebens inzwischen rascher als seine Vorzüge wachsen, sich nicht änderungslos fortsetzen läßt. Aber jede konkrete, detaillierte Maßgabe für fällige Gegensteuerungsmaßnahmen setzt wissenschaftliches, technisches, auch organisationstechnisches Fachwissen voraus, und eben deswegen wirkt jener Moralismus, der Moral einerseits und wissenschaftlich-technische Könnerschaften andererseits heute wie feindliche Brüder behandelt, destruktiv. Davon bleibt unberührt, daß die Moral stets das letzte Wort behält. Auch in der Krise unserer Zivilisation gilt das, und in letzter Instanz ist die rationale Einstellung zu dieser Krise eine Sache rationaler Moral. Zu solcher Moral gehört unter anderem Zuversicht, und es ist leicht zu erkennen, daß wir auf solche Zuversicht, auf einen moralischen Faktor also, um so mehr angewiesen sind, je mehr Stand und Verlauf der Dinge zu Sorgen Anlaß geben. Gerade in prekären Lagen wird ja der Faktor, den unsere eigene Subjektivität repräsentiert, schließlich zum ausschlaggebenden Faktor. Von unseren Tugenden, von unserer Klugheit, von unserer Zuversicht hängt es alsdann mehr als von allem anderen ab, ob wir aus unserer kritischen Lage herausfinden werden oder nicht, und eben aus diesem Grund wächst mit dem Ernst der Lage die Verpflichtung zur Zuversicht.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-642-57937-0_20

Full citation:

Lübbe, H. (1994). Das letzte Wort behält die Moral, in Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht, Springer, pp. 223-224.

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First Edition

Das letzte Wort behält die Moral

1990

Hermann Lübbe

in: Der Lebenssinn der Industriegesellschaft, Dordrecht : Springer